Drei Päpste und ein korrupter Kardinal

12. November 2020 in Aktuelles


McCarrick-Bericht, viele Details, aber Rätsel und Geheimnisse bleiben bestehen. Moralische und institutionelle Zersetzung. Eine Geschichte unter dem Zeichen ‚666’ – die noch nicht beendet ist. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Gestern wurde der Bericht über den schmerzlichen Fall des ehemaligen Kardinals Theodore McCarrick veröffentlicht. Ich erneuere meine Nähe zu den Opfern allen Missbrauchs und das Engagement der Kirche für die Ausrottung dieses Übels“: mit diesen knappen Worten beendete Papst Franziskus am 11. November 2020 die Generalaudienz, die aus der Bibliothek des Apostolischen Palastes übertragen wurde. Ein Bericht, der die katholische Welt zutiefst erschüttert hatte. Diese knappen Worte gewährte der Papst jener Welt, die in erster Linie vor einer Unzahl von Fragen steht, Fragen, die gewiss nicht auf einem verwaltungsmäßigen Weg beantwortet werden können.

Denn: der Fall „Theodore McCarrick“, der heute fast neunzig Jahre alt ist und angeblich in einem Kloster lebt, stellt auf verschiedenen Ebenen ein ganzes System in Frage. Drei Pontifikate sind in die „Geschichte“ dieses Menschen verwickelt. Wie also war es möglich, dass so ein Priester und dann „Bischof“, bei dem es von Anfang an nicht an „Gerüchten“ hinsichtlich seiner homosexuellen Umtriebe mangelte, dann zum bedeutendsten Kardinal der Vereinigten Staaten von weltkirchlicher Bedeutung werden konnte? „Uncle Ted“ – der große „Kardinal“? Der es mit seinen „Neffen“ in seinem Haus am Meer und in Seminaren trieb? Alle Kontrollen haben anscheinend versagt, sollte es je zu diesen gekommen sein, sollte sich je einer dafür interessiert haben.

Ein „Default“ also, eine totale Pleite und Zahlungsunfähigkeit. Das ist keine Entschuldigung, das ist eine Feststellung. Ein Default, für das die Kirche und jeder einzelne Gläubige bezahlen müssen. Wie meinte da der Journalist einer bedeutenden Zeitung im Gespräch? „Was ich denen weder vergeben noch nachsehen kann, ist: dass ich mich mit diesem Dreck beschäftigen muss“. Und so ist es: es bedarf der Substanz, um dieser erzwungenen Arbeit nachgehen zu können.

Ein 449-seitiger Text, der den katholischen Leser wie ein Schlag in den Magen trifft, ein Text, der an und für sich nur nach den Zahlen „666“ und „666“ und noch einmal „666“ durchnumeriert werden kann. Der Bericht über McCarrick, der ursprünglich bis Ende 2019 erwartet wurde, wurde dann also am 10. November 2020 vom Staatssekretariat veröffentlicht. In einer Vorstellung erklärte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, dass „die Untersuchung (...) zwei Jahre Arbeit in Anspruch genommen hat, und nun, da der Text veröffentlicht ist, werden Sie verstehen, warum diese Zeit nicht kurz war“. Parolin lud „alle, die nach Antworten suchen, ein, „das Dokument in seiner Gesamtheit zu lesen und sich nicht zu täuschen, die Wahrheit in einem bestimmten Teil finden zu können, anstatt in einem anderen“.

Das Dossier skizziert durch die Sammlung von Dokumenten und Zeugenaussagen (insgesamt 90 Personen haben ihren Beitrag geleistet) eine irrige Geschichte, die auf zu viele Jahre zurückreicht, übersät mit Unterschätzungen, Schweigen und Komplizenschaften, die zur Diskreditierung der Kirche beigetragen haben. Die Untersuchung zeichnet den Aufstieg und Fall des ehemals sehr mächtigen amerikanischen Kardinals nach, eine Karriere, die im Februar 2019 mit der beschämendsten Anschuldigung endete, der Pädophilie, obwohl – wie der Bericht bestätigt – dies nicht der einzige Schandfleck auf seiner Person war. Leider war es so, dass es der Entdeckung des Missbrauch von Minderjährigen bedurfte, um dieser extremen Person endgültig beizukommen.

Die ersten nachweisbaren Berichte über McCarrick, die in den Aufzeichnungen in den Archiven gefunden wurden, stammen aus den Jahren 1992 und 1993. Aufgrund einer Reihe von nicht unterschriebenen Briefen, die an die amerikanische Bischofskonferenz und den Erzbischof von New York O’Connor geschickt wurden, beschuldigte dann O’Connor den damaligen Erzbischof von Newark des ungebührlichen Verhaltens mit den, wie er es nannte, „Neffen“, in Wirklichkeit Seminaristen oder jungen Bekannte, die eingeladen wurden, „das Bett in Pfarrhäusern und Motels“ zu teilen. Der anonyme Absender schlug, fast prophetisch im Lichte der späteren Entwicklungen, Alarm wegen der Gefahr, dass „die öffentliche Bekanntgabe dieses Greuels sowie die fortgesetzte Untätigkeit und Apathie der Kirche im Umgang mit dem homosexuellen und pädophilen Priester eine bereits wütende Laienschaft erzürnen und die Moral unserer bereits belagerten Priester völlig zerstören wird“.

McCarricks Fehlverhalten geriet erstmals zwischen Ende 1993 und Anfang 1994 unter die Linse einer hohen kirchlichen Autorität, als er den apostolischen Besuch von Johannes Paul II. in den Staaten planten sollte. McCarrick, der schon damals ein hervorragendes Netzwerk politischer, militärischer und kirchlicher Beziehungen aufgebaut hatte und es weiter aufbaute, ermöglichte es dem Papst, durch „seine“ Netzwerk eine besondere Präsenz zu haben. Um die Angelegenheit zu bewerten, begann Kardinal O’Connor mit einer Überprüfung des damaligen Erzbischofs von Newark. Trotz des grünen Lichtes für den päpstlichen Aufenthalt, der im folgenden Jahr stattfinden sollte, war der damalige Erzbischof von New York eine der Gestalten, die aus dem Bericht des Staatssekretariats am besten hervorgeht.

Obwohl er das Plazet für die Berufung McCarricks nach Newark in den 1980er Jahren als Mitglied der Bischofskongregation gab, begann O’Connor nach anonymen Briefen und Beichten vor zwei Psychologen durch einen Priester – der sich wiederum des Missbrauchs zweier Teenager schuldig gemacht hatte – (der McCarrick beschuldigte, ihn in New York City sexuell missbraucht zu haben), mehr als nur einwenig perplex zu werden. Er lehnte dann einen Kandidaten für das Bischofsamt ab, weil er dem damaligen Erzbischof von Newark zu nahe stand.

Zwei Jahre zuvor war O’Connors negative Meinung ausschlaggebend dafür gewesen, McCarrick von Chicago auszuschließen, wobei die Bischofskongregation bereits 1997 wusste, dass „in Bezug auf ihn eine wenig beruhigende Stimme aufgetaucht war“. O’Connors Brief, der so detailliert und mit Referenzen aus einigen verfügbaren Quellen zitierte, wie die beiden Psychologen, die von dem beschuldigenden Priester konsultiert wurden, wurde von dem apostolischen Nuntius ernsthaft in Betracht gezogen. Er sprach darüber vor der Bischofskongregation und teilte das endgültige Urteil mit.

Aus dem Bericht geht jedoch hervor, dass der damalige Substitut „im Auftrag von Papst Johannes Paul II. Erzbischof Cacciavillan um eine Stellungnahme gebeten hat“. Cacciavillan, der damals bis vor kurzem apostolischer Nuntius der Staaten gewesen war und McCarrick schätzte, „demontierte“ die Argumente im Brief des Erzbischofs von New York und widersprach damit der Meinung seines Nachfolgers.

Montalvo setzte, nachdem O’Connors Nachfolger benannt worden war und „er der Gefahr entgangen war“, seine Untersuchung fort, wonach er zu dem Schluss kam, dass es „leichtsinnig wäre, McCarrick für wichtigere Aufgaben in der Kirche in Betracht zu ziehen“. Als er New York verlor, kam sein Name für Washington tatsächlich wieder ins Spiel, trotz des Widerstands des Apostolischen Nuntius und des Präfekten der Bischofskongregation, des damaligen Kardinals Re, der überzeugt war, dass diese Beförderung erneut Vorwürfe aufs Parkett bringen könnte, die er damals als „vergessen und jetzt der Vergangenheit angehörend“ betrachtete.

Die Ernennung zum Erzbischof von Washington ist einer der geheimnisvollsten Aspekte der Geschichte, die der Bericht rekonstruiert, denn trotz der Feindseligkeit der Nuntiatur und der Kongregation gelang es McCarrick, sie zu erlangen, wobei er sogar die Pflicht des Antrags auf Zulassung bei der von Kardinal Ratzinger geleiteten Glaubenskongregation umging, die vielleicht wenig geneigt gewesen wäre, ihn zu bewilligen, wenn sie auf die „Gerüchte“ über ihn aufmerksam gemacht worden wäre. Laut einem Funktionär, der in dem Bericht konsultiert wurde, „war es das erste Mal“, dass eine solche Ausnahme aufgetreten sei.

Der Schlüssel zu dem Geheimnis, so scheint es aus dem Bericht hervorzugehen, liegt in dem persönlichen Brief, den der damalige Erzbischof von Newark an Stanisław Dziwisz, Privatsekretär von Papst Johannes Paul II., schrieb. Ein Brief, in dem McCarrick zugab, dass er „Fehler gemacht“ habe, sich aber verteidigte und behauptete, dass er in „siebzig Jahren meines Lebens“ niemals „sexuelle Beziehungen zu irgendeiner Person, männlich oder weiblich, jung oder alt, Kleriker oder Laie“ gehabt habe.

In dem Brief erwähnte McCarrick auch die negative Stellungnahme zu seiner möglichen Berufung nach New York durch Kardinal O’Connor. Ein weiteres Rätsel: da es sich um einen vertraulichen Brief handelte, der an den Nuntius Montalvo und dann nur an die Bischofskongregation geschickt wurde, wie war dies dem damaligen Erzbischof von Newark bekannt, der direkt an der Untersuchung interessiert war? Nach dem Brief an Dziwisz, obwohl McCarrick nicht auf die Begründetheit der Vorwürfe einging und sich darauf beschränkte, sein Wort zu dem Verhalten zu geben, scheint es, dass die Zweifel in der Kurie so sehr gesunken waren, dass Re, obwohl er zuvor dagegen , dann schrieb, er habe nun „die Gewissheit, dass die Vorwürfe falsch sind“.

Im Jahr 2008 sandte Re selbst an den Apostolischen Nuntius der Staaten, Erzbischof Sambi, ein Schreiben McCarriks an Dziwisz, um das zu erhellen, was der Diplomat – in Unkenntnis dessen, was acht Jahre zuvor geschehen war, und verwirrt über die Ernennung – in einem früheren Schreiben genau als „Mysterium“ definiert hatte. Der Pontifikat Benedikts XVI. markierte einen Rückschlag in McCarricks Karriere, der 2006 zum Rücktritt gezwungen wurde, nachdem die Glaubenskongregation die Zeugenaussage und die psychologischen Berichte des ihn anklagenden Priesters erhalten hatte.

Aus dem Bericht geht hervor, dass der Rücktritt des nunmehr ehemaligen Kardinals keineswegs einfach war, um dann – während neue Einzelheiten zu den Vorwürfen bekannt wurden – zu dem zu gelangen, was in dem Dokument als „verbale Hinweise“ definiert wird, und dass in einem anstrengenden Briefwechsel mit dem Präfekten Re und dem Nuntius Sambi in jeder Hinsicht versucht wurde, zu sabotieren. Dazu kam die Weigerung, „ein zurückhaltendes und betendes Leben“ zu führen – gemäß der von Benedikt XVI. gebilligten Linie – und die Verzögerung des Transfers aus dem neokatechumenalen Seminar, in dem er sich niedergelassen hatte und in dem der Verantwortliche sein Verhalten gegenüber den Seminaristen als „schmierig“ bezeichnet hatte.

In den vergangenen Jahren hatte McCarrick ein Netzwerk internationaler Beziehungen und eine Anerkennung geschaffen, die er in bestimmten politischen Kreisen erlangt hatte (bezüglich einer Einladung, die ihm 2008 vom damaligen Übergangsteam des gewählten Präsidenten Obama ausgesprochen wurde, verrät der ehemalige Kardinal, dass er mit Joe Biden, den er als „Freund“ bezeichnet, telefoniert hat). So versprach McCarrick zwar Gehorsam, reiste aber trotz des Widerstands, der in mehreren Briefen und sogar bei privaten Treffen mit dem Präfekten der Bischofskongregation, Kardinal Re, zum Ausdruck kam, weiter ins Ausland, um politischen Interessen nachzukommen. Im Jahr 2008 hatte Benedikt XVI. selbst Gelegenheit, sich über diese Haltung zu beklagen: in der ihm eigenen sanften Art, indem er sich am Ende einer Generalaudienz unmissverständlich an ihn wandte: „Sie sind immer noch viel unterwegs!“.

Und dann kommt die Zeit (im Sommer 2018), da der emeritierte Nuntius in Washington, Erzbischof Carlo Maria Viganò, mit seinem Memoriale die Bühne der jüngsten Kirchengeschichte und dieser Phase des Pontifikats betritt. Es dürfte interessant sein, wie sich Viganò im Detail zu den vorgelegten Ergebnissen äußern wird, vor allem auch wie er auf die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe reagieren wird. Die Geschichte ist jedenfalls alles andere als abgeschlossen und aufgeklärt, zumal McCarrick eine, wie er dies selbst in einem Vortag im Jahr 2013 erklärt hatte, nicht unbedeutende Rolle beim Konklave 2013 gespielt hatte.

Nun denn: Papst Benedikt XVI. hatte es versucht, dieses korrupte Subjekt zu bestrafen, indem er ihn gebeten hatte, nicht mehr öffentlich aufzutreten. Der Papst hatte darum „gebeten“: statt anzuordnen, wurde immer noch „gebeten“. McCarrick, der sich seiner politischen und vor allem auch wirtschaftlichen Rolle bewusst war, ignorierte dieses Ansinnen einfach und war weiterhin im Namen und im Auftrag des Vatikans (wie im Bericht erläutert wird) und im Namen seiner Eitelkeit und seines Machtbewusstseins in der Welt unterwegs. Papst Franziskus bestrafte ihn erst 2018, obwohl Mitarbeiter ihn bereits 2013 auf das Problem hingewiesen hatten. Vielleicht zu spät, eine Frage, zu deren Umständen und Klärung vielleicht vor allem Erzbischof Viganò einen Beitrag leisten wird.

PS: nur als belustigend, weil an der Wahrheit vorbei und völlig an dieser desinteressiert kann die „offizielle“ Version der vatikanischen Kommunikation gewertet werden.

Der Bericht über McCarrick – Eine schmerzliche Geschichte, aus der die Kirche lernt. Vatikanische Version


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