"Und dann kam der November 2020"

27. November 2020 in Kommentar


"Plötzlich sah ich einen Wasserwerfer, der gegen Demonstranten eingesetzt wurde. Ich dachte: Die Bilder kenne ich doch, die hab ich doch schon vor 30 Jahren gesehen" - Gastkommentar von Theo Lehmann zum Polizei-Einsatz bei einer Corona-Demo in Berlin


Berlin (kath.net)

Dr. Theo Lehmann (86) )war einer der bekanntesten evangelischen Pfarrer der DDR. Zu seinen Jugendgottesdiensten strömten im damaligen Karl-Marx-Stadt jeweils über 5.000 Besucher. Er wurde allein von 16 Stasi-Leuten rund um die Uhr überwacht. Seine Akte liest sich wie ein Kriminalroman.

 

Unbeugsam dichtete er 1980 ein zentrales Glaubenslied, das in der gesamten DDR zur Hymne des Widerstandes wurde, von dem bekannten Liedermacher Jörg Swoboda vertont. Darin heißt es:  Die Mächtigen kommen und gehen, und auch jedes Denkmal mal fällt. Bleiben wird nur, wer auf Gottes Wort steht, dem sichersten Standpunkt der Welt.

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Und sagt euren Kindern das eine, dass über Gott keiner mehr steht.....

 

kath.net veröffentlich heute seine Stellungnahme zu den verbotenen und mit teils brutaler Polizeigewalt aufgelösten „Corona -Demonstrationen“ in Deutschland als Gastkommentar:

Damals?

Oktober 1989. Es klingelte. Vor der Tür standen ein paar Jungs, nass und heulend. „Herr Pfarrer, helfen Sie uns …“ Die Jungs konnten es weder fassen noch verkraften, dass die DDR mit Wasserwerfern gegen ihr eigenes Volk vorging. Einige Tage später, am 8. Oktober, fand in Karl-Marx-Stadt mein 124. Jugendgottesdienst statt. Ich predigte zu 3000 Jugendlichen über das Bibelwort Nehemia 9,33: „Wir sind in großer Not.“ Die Predigt erschien kurz danach in idea, die sie allen Bundestagsabgeordneten zustellte. Vor der Predigt wurde gesungen:

Was wir meinen, sagen wir, sagen‘s frei heraus.

Wenn es nottut, schweigen wir, halten Schläge aus.

Wir wollen Hoffnung sein, wo man versagt.

Wir wollen friedlich sein, wo man nur klagt.

Wir wollen anders sein.

Anders war ich als Prediger bereits äußerlich. Aus der Tasche meines Jacketts ragte eine Zahnbürste, und ich sagte zur Erklärung: „Das habe ich von Martin Luther King gelernt. Der predigte auch mal mit Zahnbürste als Zeichen, dass er bereit war, für seine Predigt anschließend ins Gefängnis zu gehen.“  Solche Predigten können allerdings nur gehalten werden, wenn der Heilige Geist das Herz festhält, während die Knie zittern. Gegen Ende sagte ich: „Wir sind in großer Not, weil uns die Tränen über das Gesicht laufen, wenn wir vor unseren Fernsehern sitzen und die Flüchtlingszüge sehen und die Auseinandersetzungen auf unseren Straßen und die Wasserwerfer in Aktion. Wir weinen über unser Land, und wir fragen uns: Wo sind wir hingekommen, dass der Dialog verweigert und Wasserwerfer eingesetzt werden?“ Und zum Schluss sagte ich: „Wir brauchen einen Neuanfang, und die Bibel zeigt uns, wie es dazu kommen kann: Missstände benennen, Schuld bekennen. Nur so kommt es zu einer Veränderung. Veränderung ist ein Zeichen von Leben. Wo keine Veränderung mehr stattfindet, kann nur noch der Tod festgestellt werden. Unser Bekenntnis heißt:

Nach Tod und Dunkelheit siegte das Licht.

Wer jetzt an den Auferstandenen glaubt, fürchtet sich nicht.“

Noch jetzt kriege ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie nach diesem Refrain-Zitat die Tausenden aufstanden wie ein Mann und sangen:

Sie hauen auf mich ein, bis ich den Halt verlier,

doch wir stehn wieder auf.

Ich werde abgeschossen, fliege vor die Tür,

doch wir stehn wieder auf.

Nach Tod und Dunkelheit siegte das Licht.

Wer jetzt an den Auferstandenen glaubt, fürchtet sich nicht.

Und dann kam der November 2020. Ich saß vor dem Fernseher und sah mir die Nachrichten des MDR an, und plötzlich sah ich einen Wasserwerfer, der gegen Demonstranten eingesetzt wurde. Ich dachte: „Na, die Bilder kenne ich doch, die hab ich doch schon vor 30 Jahren gesehen. Aus diesem Irrtum rief mich die Stimme des Nachrichtensprechers, denn das war live, aktuell, Gegenwart! Die Stimme erklärte, dass man aus Rücksicht auf Frauen und Kinder darauf verzichtet hatte, den Wasserstrahl direkt auf die Bürger zu richten, sondern sie nur wie ein Starkregen durchnässte. Vor Rührung über so viel väterliche Güte kämpfte ich mit den Tränen. Diese zarte Rücksichtnahme auf Frauen und Kinder! Das war ja noch mehr als das bloß hingesagte „Ich liebe euch doch alle“ von Onkel Mielke. Das jetzt war ja spürbare Liebe, die aus dem Himmel herniederregnete! Oder habe ich das alles bloß geträumt?

Ein paar Tage später saß ich wieder vorm Fernseher, es war Bußtag. Der MDR übertrug einen Gottesdienst aus der Dresdener Frauenkirche, und ich sah, wie der Prediger sich dankbar glücklich pries, in einer Demokratie zu leben. Hab ich das auch nur geträumt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Damals stand nicht nur ich, sondern die ganze Kirche auf der Seite von denen, die mit Wasserwerfern bearbeitet wurden. Damals.

Dr. theol. Theodor „Theo“ Lehmann ist evangelisch-lutherischer Pfarrer.

Foto: (c) youtube


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