Papst Franziskus an die Bischöfe und Priester, Ordensleute und Seminaristen

13. September 2021 in Aktuelles


Franziskus: Freiheit, Kreativität, Dialog. Das Evangelium kann nicht wachsen, wenn es nicht in der Kultur eines Volkes verwurzelt ist, das heißt, in seinen Symbolen, in seinen Fragen, in seinen Worten, in seiner Art zu sein


Rom (kath.net) Heute Morgen um 10.45 Uhr traf Papst Franziskus in der St. Martinskathedrale mit Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, Seminaristen und Katecheten zusammen.

Bei seiner Ankunft wurde er am Eingang der Kathedrale von Stanislav Zvolenský, Erzbischof von Bratislava und Vorsitzender der slowakischen Bischofskonferenz, sowie vom Pfarrer empfangen, der ihm das Kruzifix und das Weihwasser zum Besprengen überreichte. Anschließend gingen sie durch das Kirchenschiff, während eine Hymne gespielt wurde. Der Papst erhielt von einem Seminaristen und einer Katechetin einen Blumenstrauß, den er vor dem Allerheiligsten niederlegt. Nach einem Moment des stillen Gebets ging Franziskus wieder zum Altar.

"Die Kirche ist keine Festung, keine Machthaberin, keine hoch erhabene Burg, die auf die Welt distanziert und überheblich herabblickt."

„Einheit, Gemeinschaft und Dialog sind immer zerbrechlich, vor allem dann, wenn eine schmerzhafte Geschichte Narben hinterlassen hat. Die Erinnerung an Wunden kann zu Ressentiments, Misstrauen oder gar Verachtung führen und uns dazu verleiten, Zäune vor denjenigen zu errichten, die anders sind als wir. Wunden können jedoch auch Öffnungen sein, die ähnlich den Wunden des Herrn Gottes Barmherzigkeit durchdringen lassen, seine lebensverändernde Gnade, die uns zu Menschen macht, die Frieden stiften und versöhnen. Ich weiß, dass es bei euch ein schönes Sprichwort gibt: „Gib dem, der einen Stein nach dir wirft, ein Brot“. Das entspricht sehr dem Evangelium! Es ist die Aufforderung Jesu, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und denen, die uns schlagen, die andere Wange hinzuhalten, und so das Böse mit dem Gutem zu besiegen (vgl. Röm 12,21). Ein Detail der Biographie von Kardinal Korec hat mich sehr berührt. Er war ein Jesuitenkardinal und wurde vom Regime verfolgt, inhaftiert und zu harter Arbeit gezwungen, bis er krank wurde. Als er anlässlich des Jubiläumsjahres 2000 nach Rom kam, ging er in die Katakomben und zündete ein Licht für seine Verfolger an, um für sie Barmherzigkeit zu erbitten. Das entspricht dem Evangelium! Eine solche Haltung wächst im Leben und in der Geschichte durch demütige und geduldige Liebe.“

 kath.net veröffentlicht die Ansprache von Papst Franziskus bei der Begegnung mit Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, Seminaristen und Katechisten:

Liebe Brüder im Bischofsamt, liebe Priester, Ordensleute und Seminaristen,

liebe Katechetinnen und Katecheten, liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Ich grüße euch voll Freude und danke Bischof Stanislav Zvolenský für die Worte, die er an mich gerichtet hat. Danke, dass Ihr mich eingeladen habt und dass ich mich hier wie zu Hause fühlen darf. Ich komme als euer Bruder und fühle mich daher als einer von euch. Ich bin hier, um euch auf eurem Weg zu begleiten, und mich mit euch zu euren Fragen, den Erwartungen und Hoffnungen der Kirche und dieses Landes auszutauschen. (Die Slowakei ist ein "Gedicht"). Das war der Stil der Urgemeinde. Sie waren ausdauernd und einmütig, sie waren gemeinsam auf dem Weg (vgl. Apg 1,12-14).

Das ist das Erste, was wir brauchen: eine Kirche, die gemeinsam auf dem Weg ist, die mit der brennenden Fackel des Evangeliums die Straßen des Lebens durchwandert. Die Kirche ist keine Festung, keine Machthaberin, keine hoch erhabene Burg, die auf die Welt distanziert und überheblich herabblickt. Es gibt hier in Bratislava schon eine Burg, und sie ist sehr schön! Aber die Kirche ist die Gemeinschaft, die die Menschen mit der Freude des Evangeliums zu Christus führen will, sie ist der Sauerteig, der das Reich der Liebe und des Friedens im Teig der Welt aufgehen lässt. Bitte, lasst uns nicht der Versuchung des Prunks und weltlicher Größe erliegen! Die Kirche muss demütig sein wie Jesus, der sich ganz entäußert hat, der arm wurde, um uns reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9): so ist er gekommen, um unter uns zu wohnen und unser verletztes Menschsein zu heilen.

Ja, eine demütige Kirche, die sich nicht von der Welt absondert und nicht aus der Distanz auf das Leben schaut, sondern ihm innewohnt, ist schön. Innewohnen, vergessen wir das nicht: teilen, gemeinsam gehen, die Fragen und Erwartungen der Menschen aufnehmen. Dies hilft uns, aus der Selbstbezogenheit herauszutreten. Das Zentrum der Kirche ist nicht die Kirche! Lassen wir die übertriebene Sorge um uns selbst, um unsere Strukturen, um das Ansehen in der Gesellschaft. (...) Tauchen wir stattdessen in das reale Leben der Menschen ein und fragen wir uns: Was sind die geistlichen Bedürfnisse und Erwartungen unserer Menschen? Was erwarten sie von der Kirche? Es scheint mir wichtig, dass wir versuchen diese Fragen zu beantworten, und dabei fallen mir drei Worte ein.

Das erste lautet Freiheit. Ohne Freiheit gibt es keine wahre Menschlichkeit, denn der Mensch wurde frei und zur Freiheit geschaffen. Die dramatischen Zeiten in der Geschichte eures Landes geben eine bedeutende Lektion: als die Freiheit verwundet, verletzt und getötet wurde, wurde der Mensch herabgewürdigt und es tobten die Stürme der Gewalt, des Zwangs und der Entrechtung.

Gleichzeitig ist die Freiheit aber auch keine automatische Errungenschaft, die einfach so für immer bleibt. Freiheit ist stets ein Weg, manchmal ein mühevoller Weg, der immer neu beschritten werden muss. Um wirklich frei zu sein, reicht es nicht aus, nur äußerlich oder in den Strukturen der Gesellschaft frei zu sein. Die Freiheit verlangt von uns, dass wir für unsere Entscheidungen Verantwortung übernehmen, dass wir unterscheiden und uns im Leben weiterentwickeln. Und das ist anstrengend und macht uns Angst. Manchmal ist es bequemer, sich von konkreten Situationen nicht herausfordern zu lassen und einfach so weiterzumachen wie bisher, ohne persönlichen Einsatz, ohne das Risiko einer Entscheidung, weil es besser erscheint, sein Leben nach dem auszurichten, was andere – vielleicht die Masse oder die öffentliche Meinung – für uns entscheiden. (...)

Erinnern wir uns an die Geschichte des Volkes Israel: Es litt unter der Tyrannei des Pharaos, es lebte in der Sklaverei; dann wurde es vom Herrn befreit, aber um wirklich frei zu werden, nicht nur von seinen Feinden, muss es die Wüste durchqueren, muss es diesen mühsamen Weg gehen. Und dabei kam der Gedanke auf: „Früher ging es uns fast besser, wenigstens hatten wir genug zu essen...“. Das ist eine große Versuchung: lieber genug zu essen haben als die Mühe und das Risiko der Freiheit.

(...)

Manchmal ist man auch in der Kirche für diese Idee anfällig. Dann erscheint es besser, alles ist vorgegeben und man hat Gesetze, die einzuhalten sind, Sicherheit und Einförmigkeit, als dass man verantwortungsbewusst und mündig das eigene Christsein lebt, selber denkt, das eigne Gewissen befragt und sich hinterfragen lässt. Das ist der Anfang der Kasuistik, alles geregelt. Im geistlichen und kirchlichen Leben besteht die Versuchung, dass man einen falschen Frieden sucht, der uns beruhigt sein lässt, anstatt das Feuer des Evangeliums, das uns aufrüttelt und verwandelt. Die sicheren Fleischtöpfe Ägyptens sind bequemer als die unbekannte Nahrung in der Wüste. Aber eine Kirche, die keinen Raum für das Abenteuer der Freiheit lässt, auch nicht im geistlichen Leben, läuft Gefahr, zu einem starren und abgeschlossenen Ort zu werden. Vielleicht sind einige Menschen daran gewöhnt, aber viele andere – vor allem die jüngeren Generationen – fühlen sich von einem Glaubensangebot, das ihnen keine innere Freiheit lässt, und von einer Kirche, in der alle gleich denken und blind gehorchen müssen, nicht angezogen.

Liebe Freunde, habt keine Angst, die Menschen zu einer reifen und freien Gottesbeziehung hinzuführen. Vielleicht haben wir dann den Eindruck, dass wir nicht alles kontrollieren können, dass wir an Macht und Autorität verlieren; aber die Kirche Christi will nicht die Gewissen beherrschen und Räume besetzen, sie will eine „Quelle“ der Hoffnung im Leben der Menschen sein. Ich sage das vor allem den Hirten: Ihr übt euren Dienst in einem Land aus, in dem sich vieles schnell verändert hat und viele demokratische Prozesse in Gang gesetzt wurden, aber die Freiheit ist immer noch fragil – vor allem in den Herzen und Köpfen der Menschen. Deshalb ermutige ich euch, sie wachsen zu lassen – frei von einer starren Religiosität. Niemand soll sich erdrückt fühlen.

Möge jeder die Freiheit des Evangeliums entdecken und allmählich in eine Beziehung zu Gott eintreten, mit dem Vertrauen eines Menschen, der weiß, dass er seine eigene Geschichte und seine eigenen Wunden vor ihn bringen kann, ohne Angst und ohne sich verstellen zu müssen, ohne Sorge darum, das eigene Image verteidigen zu müssen. (...) Möge die Verkündigung des Evangeliums befreiend und niemals erdrückend sein. Und möge die Kirche ein Zeichen der Freiheit und der Gastfreundschaft sein! (...)

Das zweite Wort lautet Kreativität. Ihr seid Söhne und Töchter einer großen Tradition. Eure religiöse Erfahrung hat ihren Ursprung in der Verkündigung und im Wirken zweier leuchtender Gestalten, der Heiligen Kyrill und Methodius. Sie lehren uns, dass Evangelisierung nie bloß die Wiederholung von etwas bereits Dagewesenem ist. Die Freude des Evangeliums ist immer Christus, aber die Art und Weise, wie diese gute Nachricht ihren Weg durch Zeit und Geschichte finden kann, ist unterschiedlich. Kyrill und Methodius reisten gemeinsam durch diesen Teil des europäischen Kontinents und erfanden voller Leidenschaft für die Verkündigung des Evangeliums ein neues Alphabet für die Übersetzung der Bibel, der liturgischen Texte und der christlichen Lehre. So wurden sie zu Aposteln der Inkulturation des Glaubens unter euch. Sie erfanden neue Sprachen, um das Evangelium weiterzugeben, sie waren kreativ bei der Übersetzung der christlichen Botschaft, sie waren so nah an der Geschichte der Völker, denen sie begegneten, dass sie deren Sprache sprachen und sich deren Kultur aneigneten.

Braucht die Slowakei das nicht auch heute? Ist dies nicht vielleicht die dringlichste Aufgabe der Kirche gegenüber den Völkern Europas: neue „Alphabete“ für die Verkündigung des Glaubens zu finden? Wir haben eine reiche christliche Tradition im Hintergrund, aber im Leben vieler Menschen heute bleibt sie die Erinnerung an eine Vergangenheit, die ihnen nichts mehr sagt und ihnen für die Entscheidungen ihres Lebens keine Orientierung mehr gibt. Wenn das Gespür für Gott und die Freude am Glauben verlorengeht, nützt es nichts, sich zu beklagen, sich in einen defensiven Katholizismus zu verschanzen und die Welt zu verurteilen und anzuklagen. Da braucht es die Kreativität des Evangeliums. (...) Erinnern wir uns daran, was jene Männer taten, die einen Gelähmten zu Jesus bringen wollten und nicht durch die Eingangstür kamen. Sie öffneten ein Loch im Dach und ließen ihn von oben herab (vgl. Mk 2,1-5). Sie waren kreativ! Wie schön ist es, wenn wir es schaffen neue Wege, Möglichkeiten und Sprachen zur Verkündigung des Evangeliums zu finden! (...)

Wenn es uns mit unserer Verkündigung und unserer Seelsorge nicht mehr gelingt, auf dem gewöhnlichen Weg einzutreten, dann lasst uns versuchen, andere Räume zu öffnen, dann lasst uns andere Wege ausprobieren. (...)

Kyrill und Methodius haben dies getan und sie sagen uns: Das Evangelium kann nicht wachsen, wenn es nicht in der Kultur eines Volkes verwurzelt ist, das heißt, in seinen Symbolen, in seinen Fragen, in seinen Worten, in seiner Art zu sein. Die beiden Brüder wurden, wie ihr wisst, stark behindert und verfolgt. Sie wurden der Häresie bezichtigt, weil sie es wagten, die Sprache des Glaubens zu übersetzen. Solch eine Ideologie entsteht aus der Versuchung alles einförmig zu machen. Aber die Evangelisierung ist ein Prozess der Inkulturation. Sie ist ein fruchtbarer Samen des Neuen, sie ist die Neuheit des Geistes, der alles erneuert. (...)

Schließlich der Dialog. Eine Kirche, die die Menschen zu einer inneren und verantwortlichen Freiheit hinführt, die es versteht, kreativ zu sein, indem sie sich hineinbegibt in Geschichte und Kultur, ist auch eine Kirche, die es versteht, in Dialog zu treten mit der Welt, mit denen, die sich zu Christus bekennen, ohne dass sie „zu uns zu gehören“, mit denen, die sich schwertun auf ihrer religiösen Suche, auch mit denen, die nicht glauben. (...) Es ist eine Kirche, die nach dem Beispiel von Kyrill und Methodius Ost und West, unterschiedliche Traditionen und Mentalitäten vereint und zusammenhält. Sie ist eine Gemeinschaft, die durch die Verkündigung des Evangeliums der Liebe die Gemeinschaft, die Freundschaft und den Dialog zwischen den Gläubigen, zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen und zwischen den Völkern gedeihen lässt.

Einheit, Gemeinschaft und Dialog sind immer zerbrechlich, vor allem dann, wenn eine schmerzhafte Geschichte Narben hinterlassen hat. Die Erinnerung an Wunden kann zu Ressentiments, Misstrauen oder gar Verachtung führen und uns dazu verleiten, Zäune vor denjenigen zu errichten, die anders sind als wir. Wunden können jedoch auch Öffnungen sein, die ähnlich den Wunden des Herrn Gottes Barmherzigkeit durchdringen lassen, seine lebensverändernde Gnade, die uns zu Menschen macht, die Frieden stiften und versöhnen. Ich weiß, dass es bei euch ein schönes Sprichwort gibt: „Gib dem, der einen Stein nach dir wirft, ein Brot“. Das entspricht sehr dem Evangelium! Es ist die Aufforderung Jesu, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und denen, die uns schlagen, die andere Wange hinzuhalten, und so das Böse mit dem Gutem zu besiegen (vgl. Röm 12,21).

Ein Detail der Biographie von Kardinal Korec hat mich sehr berührt. Er war ein Jesuitenkardinal und wurde vom Regime verfolgt, inhaftiert und zu harter Arbeit gezwungen, bis er krank wurde. Als er anlässlich des Jubiläumsjahres 2000 nach Rom kam, ging er in die Katakomben und zündete ein Licht für seine Verfolger an, um für sie Barmherzigkeit zu erbitten. Das entspricht dem Evangelium! Eine solche Haltung wächst im Leben und in der Geschichte durch demütige und geduldige Liebe.

Meine Lieben, ich danke Gott dafür, hier bei euch sein zu dürfen, und ich danke euch von Herzen für das, was ihr tut und was ihr seid! Ich wünsche euch, dass ihr euren Weg in der Freiheit des Evangeliums, in der Kreativität des Glaubens und im Dialog fortsetzt, der der Barmherzigkeit Gottes entspringt, der uns zu Brüdern und Schwestern gemacht hat und uns aufruft, Frieden und Eintracht zu stiften. Ich segne euch von Herzen. Und bitte betet für mich. Danke!

 


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