Die Geister, die wir riefen

9. Oktober 2021 in Kommentar


So genannte „Impfverweigerer“ berufen sich zu Recht auf ihre Menschenwürde. Die Corona-Maßnahmen brachten eine „zwangsweise Vergesellschaftung des Leides“, die anderen Geistern als einer christlichen Solidarität entspringt. Analyse von Michael Koder


Wien (kath.net/mk) Der Wiener Jurist Dr. Wolfgang Mazal hat unlängst in der „Furche“ scharfe Kritik an den Argumenten der oft abfällig so bezeichneten „Impfverweigerer“ geübt. Mazal, der auch Präsident des katholischen Laienrates, einer Art Dachorganisation aller Laienverbände Österreichs ist, bezeichnete die medizinisch nicht begründete Verweigerung der Impfung als „fragwürdig“. Die Grundrechte habe ein derartiger „Impfverweigerer“ nicht auf seiner Seite, denn der Grundrechtsschutz der persönlichen Freiheit und der körperlichen Integrität lasse Eingriffe zu, wenn es das Gemeinwohl erfordere. Nach seiner Ansicht wäre sogar eine Impfpflicht rechtlich möglich, und damit erst recht „gelindere Mittel“ oder positive Impfanreize.

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Grundrechte geschichtlich gesehen gerade gegen eine überbordende und willkürliche, also sachlich nicht begründbare Einmischung des Staates in private Angelegenheiten entwickelt wurden. Der Grundgedanke ist die unverlierbare Menschenwürde, wonach der Mensch nicht als Mittel zum Zweck, als „Sache“ eingesetzt werden darf. Wohl jedes totalitäre Regime, von Nationalsozialisten bis Kommunisten, hat sich schon auf das „Gemeinwohl“ berufen, um seine Bürger zwangszuverpflichten. Zwar sind Grundrechte tatsächlich nicht schrankenlos, doch braucht es eine nähere Betrachtung der Art des Grundrechtes: die bereits hoch eingestufte „persönliche Freiheit“ kann nur aus bestimmten, in unserer Verfassung (!) festgelegten Gründen eingeschränkt werden. Dazu zählt etwa, wenn Grund zur Annahme besteht, dass jemand eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei. Es gibt aber auch schrankenlos gewährleistete Rechte: Niemand darf Folter oder einer unmenschlichen Behandlung unterworfen werden (Art 3 Europ. Menschenrechtskonvention). Das Tragen einer Maske kann für manche Menschen aus physischen oder psychischen Gründen unzumutbar und unmenschlich werden (siehe [https://www.kath.net/news/75906]). Ebenso kann eine aufgrund ihrer Entwicklung als nicht sicher oder ethisch nicht vertretbar empfundene Impfung eine unmenschliche Behandlung darstellen.

Mazal übersieht auch, wozu sein Gedanke, weitergedacht, führen würde: wenn es das Wohl des anderen oder das „Gemeinwohl“ erfordert, darf dann auch Menschen einer seltenen Blutgruppe zwangsweise Blut abgenommen werden, um andere zu retten? Darf eine Impfpflicht so weit gehen, dass „Verweigerer“ zwangsweise geimpft werden? Oder dass sie  das Haus nicht mehr verlassen/nicht mehr arbeiten dürfen, was für die meisten de facto einen Existenzverlust bedeutet? Die laut Mazal in der Pandemie so „großzügige“ Gesellschaft hat mit ihren unzähligen Covid-Vorschriften in Wahrheit in moralischer Hinsicht eine Büchse der Pandora geöffnet. Ebenso mit unseligen Diktionen wie „Impfverweigerer“, als ob diese sich aus reiner Sturheit gegen eine Impfung stemmen würden: Menschen, die eine Impfung ablehnen, haben sich in der Regel schon allein wegen der drohenden Repressionen (von sozialer Ächtung bis Kündigung) eingehender mit dem Für und Wider einer Corona-Impfung beschäftigt als diejenigen, die sich nur impfen lassen, um wieder reisen zu können oder an der Spaßgesellschaft teilzuhaben, und das dürfte leider einen großen Teil der Geimpften betreffen.

Wir leben aktuell in einer Art „zwangsweiser Vergesellschaftung des Leides“: Das Lebensrisiko des Einzelnen, schwer zu erkranken, zu leiden und zu sterben, wird auf die Gesamtgesellschaft überwälzt: Anstatt mancher Einzelner sollen ALLE (unter den Masken) leiden, und nur wer „ordentlich“ leidet oder gelitten hat (unter den regelmäßigen Tests, der überstandenen Covid-Erkrankung oder dem Risiko der durchgeführten Impfung), soll Platz in der Gesellschaft haben, so entsteht der Eindruck. Das aber entspricht nicht einer christlichen Solidarität: eine solche würde, aus Respekt vor dem Mitmenschen, dessen Gewissen und Menschenwürde, prinzipiell auf ein TATSÄCHLICH FREIWILLIGES Opfer für den Nächsten, also auf Empfehlungen ohne Druck setzen, und dort, wo einschneidende Verpflichtungen, wie wir sie aktuell tagtäglich erleben, wirklich notwendig sind, von vornherein einen wirksamen Zugang zu Ausnahmen (zB Maskenbefreiung) ermöglichen bzw. eine zeitliche Begrenzung der Maßnahmen festlegen.

Unsere vielfältigen Bürgerpflichten, von Steuern über Verkehrsgebote bis zur gegenseitigen Hilfeleistung im Notfall, mögen wichtig und vom Gemeinwohl gedeckt sein; die Menschlichkeit gebietet bei staatlichen Verpflichtungen aber eine Grenze, die nicht überschritten werden hätte dürfen. Aufgabe der Politik, der Medien und letztlich aller Bürger ab Frühjahr 2020 wäre es in erster Linie gewesen, die Gesellschaft darauf vorzubereiten, dass - unvermeidlicherweise - Menschen durch die Pandemie sterben werden, und die Angst vor Leid und Tod zu nehmen, statt diese zu schüren. So hätte die Gesellschaft ihr menschliches Antlitz bewahrt.


 


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