Die Marke Benedikt XVI.

6. Februar 2022 in Kommentar


Eine Stellungnahme von David Bohl, Mitglied der Initiative Evangelisation: HEUTE!


Berlin (kath.net)

Die Sturmwogen schlagen aktuell wieder enorm in das Schiff der Kirche. Sie toben so heftig, dass man meinen könnte, nun werde das immer kleiner werdende Schiff endgültig in der Flut begraben. So ähnlich waren meine Gedanken, als ich von den neuesten Vorgängen rund um die Missbrauchskrise der Katholischen Kirche in Deutschland hörte. Diesmal geht es aber nicht etwa um das leidige Thema Köln und die zahlreichen Angriffe gegen Kardinal Woelki. Nein, seit dem 20. Januar 2022 liegt der Fokus der geballten medialen Aufmerksamkeit auf einem neuen Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW).

Dieselbe Kanzlei, die das Kölner Gutachten erstellt hat, betrachtet nun in einem über 1000-seitigen Dokument Verfehlungen im Umgang mit sexuellem Missbrauch aus dem Bistum München und Freising. Ganze 4 Fälle davon werden dem damaligen Münchner Erzbischof Josef Kardinal Ratzinger (1977-1982) zur Last gelegt. Schon sind wir beim Kern des Missbrauch-Gutachtens: Auf Grundlage dieser Fälle werden gegen Papst emeritus Benedikt XVI. schwerste Vorwürfe erhoben. Er soll einige Mitbrüder im priesterlichen Dienst, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, nicht nur gekannt, sondern aktiv gedeckt und deren Taten vertuscht haben! Um eines vorwegzunehmen: Dass dieses Gutachten jenseits aller Sensations-Hascherei keinesfalls solche reißerischen Schlussfolgerungen zulässt, haben Michael Hesemann und Peter Winnemöller in ausführlichen Artikeln auf kath.net hinreichend beleuchtet. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ratzinger, der „Vertuscher“ – Mit diesem O-Ton stellte WSW ihr Gutachten auf einer Pressekonferenz vor. Als außenstehender, katholischer Beobachter fragte ich mich jedoch insgeheim, ob es sich bei dieser Pressekonferenz nicht viel mehr um eine Gerichtsverhandlung mit bereits feststehendem Schuldigen handelte. Und das Ansehen dieses Schuldigen muss schwer beschädigt werden, obwohl in dem Gutachten noch von weiteren Personen die Rede ist, die jedoch im Verhältnis zu Ratzinger auffällig im Schatten bleiben. Jedenfalls war der Beginn einer kampagnenmäßigen Hetzjagd gegen den ehemaligen deutschen Papst markiert – mit verheerendem Echo. In großen Lettern wurde in den Zeitungen von Benedikt als „Lügner“ gesprochen, er sei einer, der „sein Leben in Schande beschließen würde“. Artikel weit unter der Gürtellinie und die mich mit großem Schmerz erfüllt haben. Und natürlich brauchte man auch auf die Stimmen der einschlägigen, linkskatholisch-synodalen Protagonisten nicht lange zu warten. Schließlich war Ratzinger als wandelnde Antithese ihres Narrativ immer wieder in Ungnade gefallen.

Eine Sprecherin des ZdK empörte sich über Benedikt und verlieh ihren Worten zusätzlich Nachdruck, indem sie auf die angeblich alternativlosen Reformforderungen des „Synodalen Weges“ verwies. Leider fielen auch Bischöfe wie Overbeck, Bode, Bätzing und Marx über den Papst emeritus her. Ich frage einmal provokant: Was haben denn besagte Herrschaften groß für die Reinigung des Klerus und für die Verbreitung des Glaubens getan? Es sind immer wieder jene Kreise federführend, die seit Jahren destruktiv und glaubenszersetzend an der Kirche „sägen“ und Evangelisation wohl als Belästigung sehen – nach dem Motto: „Wir sind katholisch und entschuldigen uns dafür.“ Der ehemalige Probst von St. Gerold Martin Werlen aus der Schweiz lädt sogar zu einem „Protest-4-Gang-Menü“ gegen Benedikt ein, der laut ihm ein „verletzendes Kasperletheater“ veranstalten würde. Kundgebungen von „Maria 2.0“ und „Wir sind Kirche“ gab es bereits im Vorfeld. Genannte Gruppierungen demonstrieren sogar Hand in Hand mit der religionsfeindlichen Giordano-Bruno-Stiftung. Offensichtlich hat man gemeinsame Ziele. Es ist doch beschämend, dass selbst bekennende Protestanten wie der von mir sehr geschätzte Roger Köppel, Herausgeber der „Weltwoche“, oder atheistische Biologen wie Prof. Ulrich Kutschera Ratzinger verteidigen, während viele angebliche Katholiken eher das Bild von zerstörungswütigen Hyänen abgeben. Gegen einen solchen Wettbewerb, wer wohl am heftigsten auf einen bereits am Boden liegenden Mann eintreten kann, waren die Pharisäer wirklich barmherzige Samariter!

In der Tat kam das umstrittene Gutachten genau „richtig“, leitet es doch wieder einmal reichlich Wasser auf die Mühlen der selbsternannten Reformatoren. Kurz vor der ersten Vollversammlung des „Synodalen Weges“ 2022 beschleicht mich (wie so oft) ein böser Verdacht. Heißt das Feld, auf dem wir aktuell kämpfen, wirklich Missbrauchsfälle? Geht es primär um das berechtigte Anliegen, sexuellen Missbrauch aufklären und die Täter bestrafen zu wollen? Oder sind die Kämpfe nicht eher kirchenpolitischer Natur? Nach meinem Empfinden geht es um Letzteres. Wir ringen um die Frage, wie sich die Katholische Kirche in Zukunft ausrichten soll. Und in diesem Richtungskampf ist Ratzinger ein Fels in der Brandung, eine Marke.

Wofür steht die Marke Benedikt XVI.? Sie steht für eine Kirche, die ihren Stifter Jesus Christus und dessen Auftrag an sie in den Mittelpunkt stellt. Sie steht für eine absolut theozentrische und damit konservative Ausrichtung. Mit seiner klaren, unbestechlichen und intellektuell hochstehenden Theologie fordert Ratzinger nicht nur Modernisten, sondern auch uns Katholiken heraus. Ein Hirte, der es nicht versäumt hat, dem Volk Gottes klare Orientierung zu geben über das, was katholisch ist und was es eben nicht ist. Heute eine Seltenheit. Ratzingers Theologie ist nicht geprägt von moderner Beliebigkeit und der Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Er wagt es, die Frage aller Fragen zu stellen: Was ist Kirche? Ist sie die „Kantine“ des Zeitgeistes, die nur fade, ungewürzte Speisen von der Stange, getränkt mit etwas links-grüner Soße, hervorbringt oder ist sie die „Gemeinschaft im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe auf dem Fundament der Apostel gegründet“ (Generalaudienz vom 15. März 2006). Kirche ist anders und sie muss anders bleiben. Es hat sich gezeigt, dass eine verweltlichte, versozialdemokratisierte Lifestyle-Kirche zu nichts taugt – am wenigsten zur Evangelisation. Daher der Ruf zur Entweltlichung.

Benedikt XVI. muss erst zur moralisch unglaubwürdigen persona non grata werden, dann kann es auch seiner Theologie und seinen Standpunkten an den Kragen gehen. Anstelle der wahren Kirche steht dann ein liberal-protestantisches, anthropozentrisches Gebilde. Der Mensch, der hin und wieder die unangenehme Eigenschaft hat, sich selbst zu Gott machen zu wollen, ist darin das Maß aller Dinge. Wer jedoch Anhänger der Marke Benedikt XVI. ist und damit bekundet, dass er gerne katholisch bleiben möchte, begeht nach synodalem Denkmuster eine unverzeihliche Ketzerei. Denn – so werden wir ja immer wieder belehrt – alle explizit katholischen Überzeugungen, egal ob es nun der Zölibat oder die voreheliche Enthaltsamkeit ist, soll die Wurzel allen Übels sein.

Noch einmal: Es ist richtig, Missbrauchstäter strafrechtlich zu verfolgen und konsequent durchzugreifen. Doch wie glaubwürdig ist es, ausgerechnet einen 94-jährigen Papst, der in seiner Amtszeit so viel gegen den Missbrauch getan hat, derart dreist, ungerecht und mit diabolischer Schadenfreude zu attackieren? Wie geifert man jetzt gegen ihn, weil er sich offensichtlich nicht mehr im Detail an eine Sitzung von vor 42 Jahren erinnern kann und seine Aussage korrigieren musste.

Gegen erhebliche Widerstände hat er die Aufklärung sexueller Straftaten in der Kirche und die Zusammenarbeit mit staatlichen Ermittlungsstellen vorangetrieben. Über 300 schuldig gewordene Priester wurden im Rahmen einer strengen Gesetzgebung konsequent laisiert. 2005 formulierte Benedikt XVI. beim Kreuzweggebet: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit?“ Viele Gespräche mit Missbrauchsopfern und weitere Suspendierungen von Tätern folgten. Übrigens waren seine Amtsvorgänger auch nicht untätig. Benedikt ist der letzte, der den Opfern dieser scheußlichen Straftaten nicht zuhören will oder sich bei Fehlern unbußfertig zeigt. Ich wünsche mir von angeblich unabhängigen und ausgewogenen Medien eine Auflistung all dieser Fakten zur Hauptsendezeit. Das wäre eigentlich selbstverständlich, wenn es manchen Redaktionsstuben – so schwer das bei einem emotionalen Thema auch sein mag – um eine faire Debatte ginge. Doch darauf warten wir vergeblich. Viel wichtiger ist es ARD, zusammen mit den „üblichen Verdächtigen“ aus dem deutsch-nationalkirchlichen Lager für eine „queere“ und „bunte“ Transgender-Kirche zu werben.

Dass der Missbrauch unter Klerikern seit den 1960er Jahren ein solches, unvorstellbares Ausmaß angenommen hat, ist erst eine Erkenntnis des 21. Jahrhunderts. Genauso unvorstellbar ist das Ausmaß der „Sexuellen Revolution“, die zwar stets einseitig als positiv und befreiend gewertet wird, aber wohl doch auch in den Seelen der Priester vieles kaputt gemacht hat. Man muss daran erinnern, dass es sehr schwierig ist, Fehler der Vergangenheit mit der Brille der heutigen Erkenntnisse bewerten zu wollen. 1970 stufte man beispielsweise Beziehungen erwachsener Männer mit minderjährigen Jungen als „Kavaliersdelikt“ ein – aus heutiger Sicht skandalös. Man ging von der Existenz einer „kindlichen Sexualität“ aus, die befriedigt werden will – aus heutiger Sicht skandalös. Selbst medizinische Publikationen aus dem renommierten Deutschen Ärzteverlag verbreiteten verharmlosende Aussagen über pädophile Vorfälle, die nach heutigen Maßstäben himmelschreiend sind. Im Klima dieses Zeitgeistes stellten sich sogar Vertreter einer grünen Partei in die Parlamente und forderten einen entspannteren Umgang mit Pädophilie (manche tun das bis heute).

Eine „Pandemie des Missbrauchs“, die sich nicht nur in der Kirche, sondern auch in Schulen, Sportvereinen und den eigenen Familien Bahn gebrochen hat, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Suggerieren zu wollen, die Folgen einer „entfesselten Sexualität“ (Christa Meves) beträfe hauptsächlich geweihte Kleriker oder sei sogar die logische Konsequenz aus der katholischen Sexualmoral ist unredlich und viel zu einseitig. Wer dagegen wirklich gegen Missbrauch kämpfen will, muss sich um ein größeres Bild bemühen und darf sich nicht auf eine Person einschießen. Dazu ist es auch unerlässlich, die Dogmen der Hypersexualisierung zu hinterfragen.

Gehen wir den offensichtlichen Schmutz-Kampagnen nicht auf den Leim! Die bloßen Fakten aus dem Münchner Gutachten geben es nicht her, das Lebenswerk eines großen Theologen und Papstes zu zerstören und aus ihm einen heimtückischen Lügner und Vertuscher machen zu wollen. Ich bin sicher, dass er nicht wissentlich oder gar willentlich etwas falsch gemacht hat. Auffällig ist auch, dass ich von noch wenigen Missbrauchsopfern selbst solche Hasstiraden gegen die Kirche und insbesondere gegen Benedikt gehört habe. Wem der Abschuss Benedikts kirchenpolitisch jedoch nützt, liegt auf der Hand. Diesen Kreisen geht es schon lange nicht mehr um einzelne Fehler, die ein Kardinal gemacht haben könnte. Es geht vielmehr um den schon lange geführten ideologischen Krieg gegen alle Hirten, die aus der von Jesus Christus gegründeten katholischen und apostolischen Kirche keine Markthalle des Zeitgeistes machen wollen – es geht gegen die Marke Benedikt XVI. und sein ganzes Vermächtnis. In diesem Sinne plädiere ich dafür, dass jeder, der katholisch bleiben möchte, doch den Spruch „Wir sind Benedikt“ für sich entdecken möchte.

Mögen aber alle medialen und kirchlichen Steinewerfer die Mahnung des Herrn nicht vergessen: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Und mögen alle, die den Umbau der Kirche nach vergänglichen Ideen vorantreiben wollen und die Missbrauchskrise als Vorwand dazu nutzen, nicht vergessen, dass nur einer die Kirche baut! „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Matthäus 16,18).

 

Vertuscher Ratzinger? – Was wirklich in dem Münchener Missbrauchs-Gutachten steht

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