Kard. Müller: „Abtreibung als Menschenrecht zu fordern ist im Zynismus nicht zu überbieten“

16. März 2022 in Interview


Kardinal Gerhard Ludwig Müller im großen kath.net-Interview über atheistisch-evolutionistisches Menschenbild und Abtreibung. Von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Das christlich-humanistische Menschenbild soll durch das atheistisch-evolutionistische abgelöst werden. Dieses Menschenbild vertritt einen Dualismus, wonach der Körper und der Geist getrennt sind. Der Körper wird als eine Sache angesehen, als ein Rechtsobjekt, so dass der Mensch erst zum Rechtsträger wird, wenn er über Geist verfügt – erst dann wird der Mensch zum Rechtssubjekt, der über Rechte, insbesondere über Menschenrechte, verfügen kann. Diese Aufspaltung des Menschen in ein Rechtsobjekt und ein Rechtssubjekt hat Konsequenzen für das Menschenrecht auf Leben, die als ein Paradigmenwechsel in der Anschauung des Lebens eines Menschen angesehen werden müssen. Nicht mehr der Mensch an sich ist durch das Recht geschützt, sondern nur noch der menschliche Geist, der sich in der Selbstreflexion und formalen Selbstbestimmung zeigt. Wir wollen uns diesem Wechsel nähern und die Konsequenzen im Recht der Abtreibung von „Zellhaufen“ oder „Schwangerschaftsgewebe“, wie im atheistisch-evolutionistischen Menschenbild ungeborene Menschen bezeichnet werden, beleuchten. Kardinal Gerhard Ludwig Müller, den Papst Franziskus kürzlich einen „Meister der katholischen Lehre“ nannte, haben wir um Stellungnahmen gebeten.

Lothar C. Rilinger: Das atheistisch-evolutionistische Menschenbild geht von dem Dualismus von Körper und Geist aus. Kann dieses Menschenbild aus christlicher Sicht akzeptiert werden?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Der strikte Dualismus von Geist als denkendes Ding (res cogitans) und dem Körper als ausgedehntem Ding (res extensa) geht in dieser Form auf den französischen Philosophen René Descartes zurück. Er verstand sich keineswegs als Atheisten und legte sogar einen eindrucksvollen Beweis für die Existenz Gottes vor, die sich als notwendige Idee evident aus unserem Selbstbewusstsein ergebe.

Erst die Materialisten der Popular-Aufklärung wie Baron d´Holbach, Helvetius oder La Mettrie reduzierten den Menschen auf die Materie. Der Mensch, wie sie vorgetragen haben, sei nichts anderes als eine Maschine, die vollständig mit den Gesetzen der Mechanik zu erklären sei. Oder der Mensch sei nur die Summe seiner gesellschaftlichen Bedingungen, wie es Comte und Marx formuliert haben, und müsse daher erst durch Verbesserung zu einem neuen Menschen erschaffen werden.

Der Atheismus der Religionskritik im 19. und 20. Jahrhundert durch Max Stirner und Feuerbach konnte in Verbindung mit dem Darwin´schen Evolutionismus im Menschen keinen Wesensunterschied mehr zwischen Tier und Mensch anerkennen. Für Nietzsche war der Mensch „das noch nicht festgestellte Tier“, das sich erst in wenigen Exemplaren zum „höheren Menschen“ entwickelt habe, während die breite Masse einen „Überschuss von Missratenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden“ darstelle. Für die „Verschlechterung der europäischen Rasse“ durch die „Umwertung“ des Schwachen zum Starken und der Verachtung der Leidenden zum Mitleiden für sie, macht Nietzsche – dieser Philosoph des Nihilismus und Künder vom „Tod Gottes“, auf den sich die Eugeniker und Rassisten des 20. Jahrhunderts zu Recht oder zu Unrecht beriefen – in seiner Schrift: „Jenseits von Gut und Böse“ (vgl. § 62) das Christentum verantwortlich. Der Mensch sei nur das Zwischenstück zwischen dem Tier und dem kommenden „Übermenschen“, der Nietzsche so „am Herzen lag“. Der aktuelle Transhumanismus oder Posthumanismus folgt dem Sirenengesang seines wahnsinnig gewordenen Propheten: „Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! – wie er ausrief – Nun erst kreist der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, IV. Teil, Vom höheren Menschen, 2, (Leipzig 1923), 418). Darin fühlt sich die globalistische Elite von heute angesprochen, die sich alle Privilegien gönnt, und den dumpfen Milliarden-Massen, von Nietzsche der „Pöbel“ genannt, die Rosskur der Selbstdezimierung und dem Rest der Menschheit das Glück von weidenden Kühen verordnet (vgl. Klaus Schwab und Thierry Malleret, Das Große Narrativ. Für eine bessere Zukunft, 2022). „Doch während die Gleichheit vor Gott eine war, die zu Anstrengungen anspornte, ist die Gleichheit der ‚letzten Menschen‘ eine der notorischen Bequemlichkeit, weil es nichts mehr gibt, was der Anstrengung lohnt, und auch keiner mehr da ist, der dies einfordern könnte.“ (Herfried Münkler, Marx - Wagner - Nietzsche. Welt im Umbruch (Berlin ³2021) 222).

Hier ist genau die Bruchlinie zwischen dem Blick auf den Menschen als Bild und Gleichnis Gottes (Genesis 1, 27; Psalm 8, 6; Römer 8, 29) und der naturalistischen Reduktion des Menschen auf das zufällige Produkt der Evolution, der Soziologie und des gentechnisch angereicherten Menschen als künftigem Mischwesen aus biologischem Organismus und künstlicher Intelligenz, dem Homunculus oder Cyborg. Für uns gilt die geoffenbarte Wahrheit über den Menschen: „Denn auch die Schöpfung soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Römer 8, 21).

Rilinger: Ist es ethisch vertretbar, ein Geschöpf Gottes, als das auch ein ungeborenes Kind angesehen wird, als eine „Sache“ oder „Ding“ zu bezeichnen, was ja durch die Qualifikation als „Zellhaufen“ oder „Schwangerschaftsgewebe“ verschleiert werden soll, um offensichtlich der Bevölkerung nicht die volle Wahrheit erschließen zu lassen?

Kard. Müller: Jeder Mensch verdankt sich in seiner realen physischen Existenz dem Gezeugt- und Empfangen-Werden von seinem Vater und seiner Mutter. Die Eltern produzieren nicht ein Gewebe, das dann zufällig eine Art von Wesensverwandlung in ein Menschendasein vollziehen würde. Jeder Mensch besitzt von Anfang der Zeugung an eine unverwechselbare DNA als körperliche Grundlage seiner personalen Identität. Jeder Mensch ist als Person einer geistig-leiblichen Natur von Ewigkeit her von Gott gewollt, geliebt und zur heilsbringenden Gemeinschaft mit ihm ohne Ende bestimmt; „… denn die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes steilzuhaben …“ (Römer 8, 29)

Rilinger: Schwangerschaft wird im neuen Menschenbild offensichtlich als Krankheit angesehen, anders kann der Begriff „Reproduktionsgesundheit“ als Synonym für Abtreibung nicht verstanden werden. Kann eine Schwangerschaft als Krankheit und deshalb die Abtreibung als Wiederherstellung der Gesundheit angesehen werden?

Kard. Müller: Die Schwangerschaft ist nichts anders als die leibliche Symbiose des von einem Mann gezeugten Kindes mit der Frau, die seine Mutter ist und bleiben wird bis zum Tode. Die Schwangerschaft bietet dem Kind die Wiege des Lebens und seines Wachstums bis zu dem Tag, an dem das Kind in der Geburt das Licht der Welt erblickt. Krankheit bedeutet dagegen die Einschränkung und die Bedrohung des Lebens, der leiblichen Funktionen oder der seelischen und geistigen Integrität. Zeugung eines Kindes, Schwangerschaft, Geburt, Pflege des Säuglings, sein Genährt-Werden mit der Muttermilch, die Küsse und Tränen der Mutter, die Sorge um das gesunde Heranwachsen des Kindes sind alles andere als ein Störfall, der die Funktionsfähigkeit eines technischen „Produktes“ in Frage stellt.

Die Zeugung eines neuen Menschen im Mutterschoß ist keine Reproduktion eines Genuss- oder eines Gebrauchsgegenstandes, sondern ein Mitwirken der Eltern am Schöpfungs- und Heilsplan Gottes. Jesus, der Sohn Gottes, hat die Kinder zu sich kommen lassen, um sie zu segnen und sie uns in ihrer Einfalt und Unverdorbenheit als Vorbild unserer Gotteskindschaft anzuempfehlen. (Mt 18, 1-4). Er ist somit das Ur-bild von Gottes Kinderfreundlichkeit. Er gibt uns zu denken, wenn er sagt: „Wenn die Frau gebären soll, hat sie Trauer, weil ihre Stunde gekommen ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“ (Joh 16, 21).

Rilinger: Da die Sexualität oft von der Zeugung eines Menschen abgekoppelt ist und deshalb nicht der Fortführung der Gesellschaft dient, sondern dem je eigenen Lustgewinn, wird die Schwangerschaft zuweilen als Beeinträchtigung des Lustgewinnes angesehen. Könnte diese Beeinträchtigung als Krankheit angesehen werden?

Kard. Müller: Nicht jede geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau führt zu einer Schwangerschaft. Aber sie darf auch nicht grundsätzlich davon getrennt werden, um die bloße Geschlechtslust – ohne personale Liebe – als Droge gegen die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Daseins oder als Kränkung bzw. Steigerung des Selbstwertgefühls zu „gebrauchen“.

Die Ehe ist eine ganzheitliche Einheit von Mann und Frau in der Liebe, die die beiden Partner in der Erfahrung der bedingungslosen Liebe Gottes, die unser ewiges Glück ist, über sich hinausführt. „Der eheliche Akt ist im Hinblick auf den Lohn des ewigen Lebens verdienstlich und ohne jede schwere oder leichte Schuld, wenn er auf die Zeugung von Kindern und ihre Erziehung zur Gottesverehrung hin geordnet bleibt“ (Thomas von Aquin, Kommentar zum 1. Korintherbrief, Kap. 7), selbst wenn de facto – ohne die ausschließende Absicht der Eltern – kein neuer Mensch entsteht.

Rilinger: Der ungeborene Mensch wird im neuen Menschenbild als Sache angesehen. Soll durch diese rechtliche Qualifikation eines ungeborenen Menschen als Sache die Möglichkeit erreicht werden, diese bis zur letzten logischen Sekunde der Schwangerschaft töten zu dürfen, ohne dass ein Tötungsdelikt vorliegt?

Kard. Müller: Eine Sache ist ein unbelebtes Wesen wie ein Buch, ein Auto, ein Computer. Der Mensch im embryonalen Zustand seiner Entwicklung ist aber ein Lebewesen mit den menschlichen Organen, die ihn zum echten menschlichen Denken und Handeln befähigen.

Eine Frau gebiert auch keine Sache, sondern ein Kind, von dem sie hofft, dass sie es gesund und lebend in ihre Arme schließen kann.

Eine Argumentation gegen diese menschenverachtende Denkweise einem Kind im Mutterleib gegenüber ist überflüssig, weil das Mensch-Sein des Kindes im Mutterleib evident ist und seine Leugnung die Rechtfertigung des abscheulichsten Verbrechens gegen das Leben darstellt. Ein Kind im Mutterleib zur Sache zu erklären, ist genauso pervers, wie Menschen zu Sklaven zu machen und zur Rechtfertigung dieses horrenden Verbrechens gegen die Menschlichkeit sie dann zur Sache zu erklären.

Rilinger: Das Europäische Parlament hat den sogenannten Matic-Bericht im Sommer 2021 beschlossen, wonach Abtreibung als ein Menschenrecht angesehen werden soll. Können Sie sich vorstellen, dass die Weigerung, dieses neu erfundene sogenannte Menschenrecht zu beachten, zivil- oder strafrechtliche Folgen hat?

Kard. Müller: Wenn diese neuheidnischen Atheisten und Agnostiker von Menschenrechten und europäischen Werten sprechen, geben sie widerwillig zu, dass es ethische Maßstäbe gibt.

Auch wenn sie in ihrer metaphysischen Orientierungslosigkeit, die sich aus dem Verlust des Glaubens an den allmächtigen Gott, unseren Schöpfer und unbestechlichen Richter über die guten und bösen Taten, ergibt, objektive und allgemeinverbindliche sittliche Normen ablehnen, müssen sie aber als ethisches Minimum wenigstens die Grenze der Selbstbestimmung am Leib und Leben des anderen Menschen anerkennen.

Wer meint, dass die Mächtigen, die Gesunden und die Reichen mehr Recht auf Leben haben als die Schwachen, Kranken und Armen, der überführt sich selbst als Jünger des Sozialdarwinismus, der im 20. Jahrhundert zu Millionen von Opfern der politischen Ideologien geführt hat. Es reicht nicht, seinen Antifaschismus und Antistalinismus zu beschwören, man muss vielmehr im Denken und Handeln deren menschenverachtende Prinzipien abschwören. Aller Berufung auf die Emanzipation vom Dekalog oder der Berufung auf den Mehrheitsentscheid in Parlamenten oder das gewandelte Volksempfinden zum Trotz, gilt das in der Vernunft und im Gewissen jedes Menschen aufleuchtende natürliche Sittengesetz. Die mit dem Leben anderer so verbrecherisch frivol umgehen, schreien am lautesten, wenn es ihnen – wie man bei den Kriegsverbrecherprozessen sehen kann – selbst an den Kragen geht.

Das Zweite Vatikanum hat in dem Konzilsdekret Gaudium et spes die Achtung vor der menschlichen Person mit den Worten eingefordert: „Alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein ‚anderes Ich‘ ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht. Sonst gleichen sie jenem Reichen, der sich um den armen Lazarus gar nicht kümmerte. Heute ganz besonders sind wir dringend verpflichtet, uns zum Nächsten schlechthin eines jeden Menschen zu machen und ihm, wo immer er uns begegnet, tatkräftig zu helfen, ob es sich nun um alte, von allen verlassene Leute handelt oder um einen Fremdarbeiter, der ungerechter Geringschätzung begegnet, um einen Heimatvertriebenen oder um ein uneheliches Kind, das unverdienterweise für eine von ihm nicht begangene Sünde leidet, oder um einen Hungernden, der unser Gewissen aufrüttelt durch die Erinnerung an das Wort des Herrn: ‚Was ihr einem der Geringsten von diesen meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.‘(Mt 25,40)“.

Weiter wird ausgeführt: „Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ (II. Vatikanum, Gaudium et spes, 27)

Rilinger: Darf – wie im neuen Menschenbild gefordert wird – einem Arzt verboten werden, sich zu weigern, einen ungeborenen Menschen gegen sein sittliches Gewissen zu töten?

Kard. Müller: Einen Menschen zu einem Handeln gegen sein Gewissen zu zwingen, ist in sich selbst schon unsittlich. Ihn deswegen noch zu bestrafen, ist das sichere Kennzeichen einer Perversion der Justiz in einem totalitär entgleisten Gemeinwesen, das seinen Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit verloren hat, selbst wenn es rein formal noch den Anschein einer Demokratie aufweisen würde.

Rilinger: Kann die Weigerung eines Arztes, eine vorgeburtliche Tötung vorzunehmen, als eine „geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber Frauen“, wie dies im atheistisch-evolutionistischen Menschenbild eingefordert wird, angesehen werden?

Kard. Müller: Abtreibung ist eine geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber einer Frau als Mutter und ihrer Tochter oder ihres Sohnes.

Rilinger: Ist es mit unserer Rechtsordnung vereinbar, dass jedes Krankenhaus, also auch ein katholisches, Abtreibungen vornehmen muss?

Kard. Müller: Man kann nicht das, was ethisch Unrecht ist, willkürlich-positivistisch zum Recht erklären.

Rilinger: Im Falle einer Schwangerschaft können Menschenrechte der Mutter und des ungeborenen Kindes kollidieren, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet wird. Muss in diesem Fall eine Güterabwägung vorgenommen werden, so dass sich der Arzt zwischen dem Leben der Mutter und dem des ungeborenen Kindes entscheiden muss?

Kard. Müller: Kein Arzt hat überhaupt ein Recht, über Leben und Tod eines anderen Menschen zu verfügen. Seine Aufgabe ist es vielmehr, Leben zu retten. In einem Extremfall, wenn nur ein Leben auf Kosten eines anderen Lebens gerettet werden kann, kann keiner von außen entscheiden. Hier beginnt eine Logik „der größeren Liebe, in der einer sein Leben hingibt für seine Freunde.“ (Joh 15, 13). Ich kenne Frauen, die in dieser Stunde ihr Leben für ihr Kind gewagt haben, die dabei gestorben sind, und andere, die trotz gegenteiliger Voraussagen der Ärzte überlebt haben und heute Gott für diese Gnade danken.

Rilinger: Abtreibungen aus welchen Gründen auch immer sollen von den Krankenkassen und Krankenversicherungen in den Leistungskatalog aufgenommen werden. Ist es der Gemeinschaft der Versicherten zuzumuten, für nicht medizinisch indizierte Abtreibungen, die ja den Charakter von allgemeiner Empfängnisverhütung aufweisen, zahlen zu müssen?

Kard. Müller: Vom Standpunkt des natürlichen Sittengesetzes und des christlichen Menschenbildes ist eine Zwangsbeteiligung an jeder Form von Abtreibung, Euthanasie und anderen Formen von Beseitigung angeblich „nicht mehr lebenswerten Lebens“ mit allem Nachdruck und jeder Bedingung abzulehnen. Es ist freilich Tatsache, dass in totalitären Diktaturen und auch in Staaten im „demokratischen Westen“ bestimmte ideologische Gruppen – bis in die im Parlament vertretenen Parteien – die Mitbürger zur finanziellen Kooperation von Tötungen unschuldiger Menschen nötigen. Christen werden dafür oft öffentlich diffamiert, benachteiligt und sogar gerichtlich verfolgt.

Rilinger: Der Matic-Bericht hat zwar keine rechtlichen Konsequenzen, da das Europäische Parlament über keine Gesetzgebungskompetenz für das Abtreibungsrecht verfügt. Gleichwohl hat dieser Bericht Auswirkungen im politischen Diskurs. Soll mit dieser Entscheidung aufgezeigt werden, was wir als europäische Werte anzusehen haben, so dass, wie es Präsident Macron schon gefordert hat, die Europäische Grundrechtecharta geändert werden muss?

Kard. Müller: Die Abtreibung als Menschenrecht zu fordern ist in seinem menschenverachtenden Zynismus nicht zu überbieten. Das wird Papst Franziskus dem französischen Präsidenten sagen, der sich öffentlich als sein Freund ausgibt.

Rilinger: Eminenz, vielen Dank!

Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net

Foto des Originalbriefs von Papst Franziskus an Kardinal Müller: "Sie sind ein Meister der Theologie"


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