Der Missbrauch, die Medien und Benedikts Vermächtnis

26. Juni 2022 in Kommentar


„Wird das mit den kruden Benedikt-Schlagzeilen jetzt immer so weitergehen? Monat für Monat? Bis niemand mehr wagt, für den emeritierten Papst die Hand zu heben?“ – Gastbeitrag von Peter Seewald


München-Rom (kath.net) Wird das mit den kruden Benedikt-Schlagzeilen jetzt immer so weitergehen? Monat für Monat? Bis niemand mehr wagt, für den emeritierten Papst die Hand zu heben?

Landauf, landab großflächig verbreitet, konnten Leser dieser Tage über neue Sensations-Schlagzeilen staunen: „Muss Papst Benedikt XVI. vor Gericht?“, hieß eine davon. Der Nachrichtendienst Watson meldete: „Papst Benedikt Mittäter?“ Für Bild war der deutsche Papst der „Verlierer des Tages“. Und der Kirchenexperte der Augsburger Allgemeinen wusste aus dem Stand heraus, dass „die Missbrauchsklage gegen Benedikt XVI. schon jetzt ein Erfolg“ sei.

Keines dieser Blätter hatte im Übrigen über die aktuell in München stattgefundene Veranstaltung zum 95. Geburtstag des ehemaligen Oberhauptes der katholischen Weltkirche berichtet, in der Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber den deutschen Papst als eine der größten Persönlichkeit unserer Zeit würdigte. Auch die ortsansässige Süddeutsche Zeitung verschwieg das Ereignis. Dafür hatte es sich die Religions-Journalistin des Hauses angewöhnt, wo immer es geht zu erwähnen, der frühere Papst habe im Zusammenhang mit Missbrauch eine Falschaussage gemacht, die er dann korrigieren musste. Dass es sich nicht um eine Falschaussage, sondern lediglich um einen Irrtum handelte, für den auch nicht der Emeritus, sondern der Übertragungsfehler eines externen Mitarbeiters verantwortlich war, bleibt unerwähnt.

Für die neueste Empörungswelle in der Dauerkampagne gegen Benedikt XVI. genügte, dass ein findiger Berliner Anwalt beim Landgericht Traunstein eine Klage einreichte. In der Begründung argumentiert der Jurist, sein Mandant sei ein Opfer sexuellen Missbrauchs durch Peter H., den auch in München eingesetzten Essener Priester. Ratzinger habe als Bischof nicht dafür gesorgt, dem Mann das Handwerk zu legen. Er trage „gesamtschuldnerische Haftung“. Zuvor hatte sich der Anwalt einige Journalisten ins Boot geholt, die für die nötige Bugwelle sorgten. Es folgte der allbekannte Tsunami, wie er im Fall Benedikts wiederkehrend durch die Medienwelt schwappt.

Spielt es keine Rolle, dass der Mandant des Anwalts zum Zeitpunkt, als Ratzinger Bischof in München war, noch gar nicht geboren war? Oder dass die 1,5 Millionen Euro teure Untersuchung der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl, auf die sich seine Klage bezieht, nicht den Hauch eines Beweises liefern konnte, dass Ratzinger in der Vertuschung von Missbrauchsfällen verwickelt war? Als Rechtswissenschaftler ginge es ihm gegen den Strich, kommentierte der frühere Bundesrichter Thomas Fischer, dass die Münchner Kanzlei sich den Anschein gab, unabhängig und neutral wie ein staatliches Gericht zu urteilen, obwohl das private Gutachten keinerlei gerichtliche Relevanz habe.

Das Versagen der Kirchen im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Priester ist entsetzlich und unentschuldbar. Es gibt darauf keine andere Antwort als die der Aufklärung, der Sühne, der Beseitigung missbrauchsfördernder Strukturen. Und nicht zuletzt höchste Achtsamkeit in allen Bereichen der Gesellschaft. Alleine für das Jahr 2020 bezifferte die Bundesregierung die Zahl von Kindesmissbrauch in Deutschland auf 14.594 Fälle. Hinzu kamen 18.761 Fälle von Kinderpornografie. Zu den hässlichen Begleiterscheinungen des Missbrauchs gehört freilich längst auch dessen Instrumentalisierung. Die Berichterstattung von Kirchenjournalisten, die zwischen Information und Desinformation nicht mehr zu unterscheiden wissen, hat sich dabei zu einem geduldeten Medienskandal entwickelt. Es gibt hunderte von Beispielen dafür. Die Verantwortlichen in den Chefetagen schauen weg. Sie dulden jedwede Manipulation, sobald sich auch nur die geringste Möglichkeit zeigt, Benedikts Vermächtnis in Verruf zu bringen.

Der Emeritus selbst hat es aufgegeben, sich zur Wehr zu setzen. Es sei zwecklos, sagt er aus seiner langjähriger Erfahrung mit dem „Qualitätsjournalismus“ in seinem Herkunftsland. Wer möchte ihm widersprechen? Als im Januar das Münchner Anwalts-Trio sein Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum in den Jahren von 1945 bis 2019 präsentierte, signalisierte bereits die Ankündigung eines „Sondergutachtens“ über Ratzingers Bischofsjahre von 1977 und 1982 (also für lediglich fünf der 74 Jahre des Berichtszeitraums), was die Anwälte im Sinn hatten.

Der Präsentation vorangegangen war eine konzertierte Medienaktion, angeführt von der Zeit, die nichts anderes als eine Vorverurteilung zum Ziel hatte. Als der Irrtum in Ratzingers Angabe über seine Anwesenheit bei einer bestimmten Sitzung erkannt wurde, wäre es die Pflicht der Anwälte gewesen, den greisen Emeritus darauf aufmerksam zu machen. Sie haben es unterlassen. Nur aus dem Grund, einen Skandal produzieren zu können.

Benedikt XVI. versicherte, er sei in dem Fall des Missbrauchspriesters Peter H. nicht involviert gewesen. Den dem Bistum Essen unterstehende Kaplan, der lediglich für kurze Zeit in München Logis bekommen sollte, um sich einer Therapie zu unterziehen, habe er nie kennengelernt. Er klärte auch sofort darüber auf, wie es zu der irrtümlichen Aussage über die (im übrigen irrelevante) Abwesenheit bei der Sitzung gekommen war – doch jedes Wort wurde ihm als weitere „Verstrickung in sein Lügengebäude“ ausgelegt. Im Deutschlandfunk berichtete die kirchenpolitische Redakteurin Christiane Florin, der Vorwurf gegen Benedikt XVI. sei, er habe „bewusst in seiner Stellungnahme im Münchner Gutachten die Unwahrheit gesagt – also gelogen“. Tatsächlich hatten noch nicht einmal die Anwälte diesen Vorwurf erhoben.

Auf der betreffenden Sitzung des Ordinariatsrates, so Florin weiter, sei „entschieden“ worden, dass der Priester H. „in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werden sollte – obwohl er in der Vergangenheit Kinder missbraucht hat“. Auch diese Darstellung war von der Journalistin frei erfunden worden. Sie stand nirgendwo im Gutachten. Tatsächlich konnten die Anwälte für ihre Anschuldigungen nur Vermutungen und „Beweise“ vom Hörensagen vorbringen. Gleichzeitig kehrten sie die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung um, um, gestützt auf Indizien, dem ehemaligen Papst über einen „Anfangsverdacht“ ein „Fehlverhalten“ in vier Fällen zu unterstellen – und auch dies nur „mit hoher Wahrscheinlichkeit“.

Wollte der Jurist aus Berlin wirklich für seinen Mandanten eintreten, hätte er die Kardinäle Wetter und Marx in den Focus rücken müssen. Nicht in Ratzingers Amtszeit, sondern in der seiner Nachfolger war der Missbrauchstäter als Priester eingesetzt worden. Damit hätte er freilich auf die Chance verzichten müssen, wenigsten einmal in seinem Leben groß im Rampenlicht zu stehen.

Zur Erinnerung: Nach intensiver Prüfung der von der Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl vorgelegten Unterlagen kam das juristische Beraterteam des emeritierten Papstes zu folgendem Ergebnis:

1.)    Joseph Ratzinger habe als Bischof von München weder Kenntnis davon gehabt, dass Kaplan Peter H. „ein Missbrauchstäter ist, noch dass dieser in der Seelsorge eingesetzt wird. Die Akten zeigen, dass in der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 nicht über einen seelsorgerlichen Einsatz des Priesters Peter H. entschieden wurde“.

2.) Zu den drei weiteren Fällen angeblichen Fehlverhaltens wird festgestellt: „In keinem der Fälle ... hatte Joseph Ratzinger Kenntnis von Taten oder vom Tatverdacht sexuellen Missbrauchs der Priester. Das Gutachten präsentiert keine Beweise dafür, dass es sich anders verhält.“

Papst Benedikt hatte die Untersuchung über den Missbrauch in seiner früheren Diözese rückhaltlos begrüßt und unterstützt. Im Interesse der Opfer, erklärte er, sei „eine gute, lückenlose und erfolgreiche Aufarbeitung“ unabdingbar. Heute muss hinzugefügt werden: auch im Interesse des deutschen Papstes. So gesehen wäre es zu begrüßen, wenn die Richter in Traunstein den Fall aufgriffen. Niemand freilich kann ernsthaft glauben, die Dauerkampagne gegen Benedikt XVI. könnte dadurch beendete werden.

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Von Peter Seewald
Hardcover, 1184 Seiten
2020 Droemer/Knaur
ISBN 978-3-426-27692-1
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Archivfoto Peter Seewald (c) Seewald


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