„Das Begründungsmärchen des Synodalen Wegs“

28. Juni 2022 in Kommentar


„Bischöfliche Vertuschung der MHG-Ergebnisse: systemische Ursachen von Missbrauch werden als Begründungsmärchen des Synodalen Irrwegs verbreitet“ – „Bischöfe stellen sich nicht der Kritik, sondern reagieren gereizt“. Gastkommentar von Hubert Hecker


Bonn (kath.net) Kardinal Christoph Schönborn hat kürzlich die Frage gestellt: Ist Missbrauch in der Kirche geschehen, weil es keine Gewaltenteilung gibt? Für ihn sei der „direkte Konnex zwischen dem Missbrauchsthema und Kirchenverfassungsfragen“ nicht erwiesen.

Doch genau diese Verbindung ist eine Basisthese des Synodalen Wegs. Bischof Bätzing behauptet in zahlreichen Wortmeldungen, zuletzt in seiner zweiten Antwort auf den US-amerikanischen Erzbischof Aquila, „dass es mehrdimensionale systemische Faktoren in der Katholischen Kirche sind, die Missbrauch begünstigen“. In der MHG-Studie seien missbrauchsfördernde Machtstrukturen, insbesondere der Klerikalismus, wissenschaftlich unabweislich herausgearbeitet worden. Deshalb müssten Teile der kirchlichen Hierarchieverfassung abgebaut werden.

Auf Nachfrage oder Kritik haben die Bischöfe noch nie einen Nachweis für ihre These von den kirchenspezifischen „systemischen Ursachen für Missbrauch“ gegeben, nicht einmal einen Hinweis, auf welche Teilprojekte oder Passagen in der MHG-Studie sich ihre Behauptung stützt. In der zwanzigseitigen Zusammenfassung findet man jedenfalls keinen Hinweis auf Systeme und Strukturen, die als ursächlich für Missbräuche ausgewiesen werden.

Im Gegenteil. Auf Seite 12 der MHG-Zusammenfassung werden empirisch begründete Ergebnisse der Teilprojekte 2, 3 und 6 präsentiert, die die These von der klerikalen Machtdominanz als Ursache, Ermöglichung oder Förderung von Missbrauch weitgehend widerlegen: Aus den Befunden von drei Teilprojekten ließen sich drei Grundmuster von Beschuldigten charakterisieren, „die sich bereits publizierten Typologien sexueller Missbrauchstäter außerhalb des kirchlichen Kontextes zuordnen lassen“, die also nicht kirchenspezifisch sind. Das heißt:

Missbrauch durch Kleriker unterscheidet sich nicht von sexuellen Übergriffen in anderen Institutionen

Auch die Art der sexuellen Gewalt unterscheidet sich nicht darin, ob sie von Klerikern oder Sporttrainern oder Familienvätern begangen wird. Das bestätigte der MHG-Studienleiter Prof. Harald Dreßling in einem Deutschlandfunk-Gespräch vom 1. 7. 2019. Weiterhin stimmte er dem Vorhalt zu, „dass Missbrauch überall vorkommt, wo Kinder sind und eben nicht besonders häufig in der katholischen Kirche“. Schließlich betonte Dreßling das asymmetrische Machtgefälle, nach dem Erwachsene immer viel mehr Macht haben als ein Kind. Sexuelle Gewalt sei immer und überall eine Ausnutzung von überlegener Erwachsenen-Macht. Und die psychischen, sozialen und körperlichen Folgen seien eigentlich relativ gleichförmig – egal, wo der Missbrauch stattfindet.

Aufgrund dieser Einlassungen des leitenden MHG-Autors ist als Ergebnis festzuhalten:

Missbrauch durch Kleriker unterscheidet sich nicht von sexuellen Übergriffen in anderen Institutionen, weder nach der Typologie der Täter, nicht nach der Art der sexuellen Gewalt, noch in der Ausnutzung des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern und auch nicht in den psycho-sozialen Folgen für die Betroffenen. Als weitere Folgerung ist zu ergänzen: Missbrauch durch Kleriker ist in seiner Art ebenfalls nicht unterscheidbar von sexuellen Übergriffen durch kirchlich beauftragte Laien, die für ein Drittel der Fälle von sexueller Gewalt in der Kirche verantwortlich sind.

Exkurs zum Missbrauchsbericht aus Münster

Diese evidenzbasierten Aussagen als Fazit aus empirischen Vergleichsstudien widerlegen die Thesen des kürzlich publizierten Untersuchungsberichts zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster. Mit ihrem methodischen Tunnelblick auf kirchliche Umstände fokussiert sich die Münsteraner Studie auf die spezifisch katholische Hierarchieverfassung. Indem die Autoren in der klerikalen Macht den entscheidenden Strukturfaktor für sexuellen Missbrauch identifiziert haben wollen, erweist sich ihre Studie als bischöfliches Auftragswerk, um die entsprechenden Thesen des Synodalen Wegs zu stützen. Das gilt insbesondere für die Foren I (Macht und Gewaltenteilung in der Kirche) und II (Priesterliche Existenz). Die letztere Arbeitsgruppe co-moderiert der Münsteraner Bischof Felix Genn.

Zurück zur MHG-Studie

Nach den grundsätzlichen Aussagen der MHG-Forscher sind die einzelnen Untersuchungsergebnisse über die oben erwähnte Typologie sexueller Missbrauchstäter aus dem zweiten MHG Teilprojekt darzustellen. Die erforschte Gesamteinheit von übergriffigen Tätern wird in drei Untergruppen aufgeteilt:

• Zur ersten Gruppe von 28 Prozent ordnet man Geistliche zu, bei denen pädophile Neigungen angenommen werden, auch aufgrund des niedrigen Durchschnittsalters der Betroffenen von 10,6 Jahren.

• Dem größten Teil der Beschuldigten mit 58 Prozent werden unterschiedliche Defizite bei der persönlichen Integration ihrer Sexualität bescheinigt. Dieser Gruppe gehören vorwiegend Beschuldigte mit homosexuellen Sexualpartnerpräferenz an. Das durchschnittliche Alter der Missbrauchten lag hier bei über 14 Jahren. Der Missbrauch von Heranwachsenden besteht offensichtlich in homosexuell-ephebophilen Handlungen.

• Eine kleine dritte Gruppe von Klerikern (14 Prozent) wird dem Muster eines „narzisstisch-soziopathischen Typus“ zugeordnet. Diese Geistlichen gelten als durchsetzungsstark, dominant und erfolgreich vom Typ des modernen, beliebten Jugendseelsorgers. „Für die Herstellung von Tatgelegenheiten ebenso wie für die Vertuschung von Übergriffen instrumentalisieren sie ihre Amtsautorität“, um ihre sexuellen Bedürfnisse egoistisch zu befriedigen. „Der sexuelle Missbrauch erscheint dabei als eine von mehreren Formen des narzisstischen Macht-Missbrauchs“, heißt es in der Zusammenfassung der MHG-Studie auf Seite 12.

Nur eine Promille-Größe: Kleriker mit narzisstischem Macht-Missbrauchs

Dieser Tätertyp entspricht aber gerade nicht den (karikierten) Geistlichen, die aus der Haltung des überhöhten, sakralisierten Priestertums mit einer klerikalistischen Dominanz seinen Opfern gegenübertreten würden. Der oben erwähnte ‚moderne Jugendseelsorger‘ vermeidet bewusst klerikales Auftreten und entsprechende Insignien. Er betont eher die Begegnung auf Augenhöhe mit Jugendlichen und zeigt viel Empathie bei der Anbahnung des Missbrauchs.

Dem folgenden Resümee sei vorangestellt: Alle Missbrauchstäter sind für ihre Untaten verantwortlich. Sie nutzen für ihre sexuellen Übergriffe die überlegene Erwachsenen-Macht aus. Unterhalb dieser grundsätzlichen Aussagen erfolgten laut MHG-Studie Missbrauchshandlungen bei den allermeisten Tätern aufgrund einer defizitären Integration ihrer Sexualität bzw. aus pädophilen und ephebophilen Neigungen. Für einen kleinen Teil der Missbrauchstäter – in diesem Fall bei 14 Prozent Geistlichen – ist es charakteristisch, dass sie ihr Amt und ihre Amtsmacht missbrauchen, um sich im Kontakt mit anvertrauten Minderjährigen sexuell zu befriedigen. Diese Beschreibung gilt für katholische und evangelische Pfarrer, aber auch für säkulare Trainer, Lehrer, Heimerzieher, Polizisten etc., nur dass die jeweilige Amtsautorität unterschiedlich ausgestaltet ist.

Das Vorkommen von spezifischem Amts- oder Machtmissbrauch durch Einzelne sind Verstöße gegen die jeweiligen Systemregeln und müssen als solche geahndet werden. Kein Mensch außerhalb der Kirche käme aber auf die Idee, die Amtsmacht selbst oder gar das gesamte Regelsystem für die Regelverletzungen verantwortlich zu machen. Nur von deutschen Bischöfen und Theologen wird ein solcher Unsinn mit ihrer These von der klerikalen Macht als systemische Ursachen für Missbrauch behauptet.

Wenn man die vier Prozent beschuldigter Geistlicher als 100-Prozent-Einheit betrachtet, dann spielt bei dem allergrößten Teil der Missbrauchskleriker die Instrumentalisierung der spezifischen Amtsmacht für den Missbrauch keine oder nur eine nachrangige Rolle. Ein kleiner Teil (jene 14 Prozent) übt ihre priesterliche Vollmacht nicht regelkonform aus, sondern nutzen die Amtsautorität gezielt und schamlos aus für Missbräuche und Vertuschung. An der Gesamtheit aller katholischen Geistlichen haben sie einen Anteil von ca. 0,6 Prozent.

Auf diesem schmalen Promillegrad die spekulative These aufzubauen, Missbräuche in der Kirche seien durch systemische Ursachen wie die angebliche klerikalistische Macht der Priester zu erklären, ist ein fauler Trick.

Damit erweist sich die These von den klerikalistischen Machtstrukturen als das Begründungsmärchen des Synodalen Irrwegs

Auch das Münchener Gutachten hatte den Auftrag, systemische Ursachen für Missbrauch in der Kirche aufzuzeigen. Doch die Gutachter haben auf den 1800 Seiten sehr viel Material für individuelles Fehlverhalten von kirchlich Verantwortlichen zusammentragen, aber sie waren nicht in der Lage, in ihren empirischen Untersuchungen Substantielles zu systemischen Missbrauchsursachen nachzuweisen. Ähnlich wie die MHG-Studie konnten sie nur ein vergleichsweise kleines Kapitelchen über den sogenannten Klerikalismus einfügen, in dem sie vor allem Mutmaßungen ausbreiten. In der Passage über Institutionenschutz müssen sie feststellen, dass diese Haltung gerade nicht kirchenspezifisch oder eben klerikalistisch ist (S. 406f des WSW-Gutachtens).

Klerikalismuskritik als modische Gutachter-Attitüde

Die Klerikalismusthese ist inzwischen zu einer „herrschenden Lehrmeinung“ geworden, urteilt Patrick Bahners in seinem FAZ-Artikel „Das Gerücht des Klerikalismus“ vom 14. 2. 2022, zu einem „Dogma der Auftragsforschung“, das „von Gutachten zu Gutachten weitergegeben“ wird. Niemand fragt mehr nach der „empirischen Grundlage der gängigen Ansicht“. Auch die Münchener Gutachter halten es nicht für nötig, ihre allgemeine Klerikalismusbehauptung an den 65 Fällen im Einzelnen empirisch aufzuweisen oder zu belegen. So bleibt die pompös vorgetragene Anklage des Klerikalismus als Plausibilitätsbehauptung in der Sphäre des Hypothetischen und Spekulativen stecken. Bahners sieht das Systemische an der Leerformel des Klerikalismus darin: „Die Schuldzuweisung ans System hat System.“

Bischöfe stellen sich nicht der Kritik, sondern reagieren gereizt

Als letzte Frage bleibt zu klären: Warum beharren die Bischöfe Marx, Bode und Bätzing so blindlinks auf ihrer unbelegten These von systemischen Ursachen und institutioneller Schuld der Kirche an Missbrauch? In seinem Statement zum Münchener Gutachten spricht Kardinal Marx erneut mehr von den defizitären Strukturen und der Mitschuld der Kirche als von seinem eigenen Fehlverhalten und persönlicher Verantwortung – übrigens ähnlich wie uneinsichtige Missbrauchstäter.

Warum reagieren die DBK-Bischöfe so empfindlich auf die vielfach vorgetragene Kritik, dass die Synodenaufträge nicht aus der MHG-Studie zu belegen sind? Statt sich auf eine sachliche Auseinandersetzung zu den aufgezeigten Widersprüchen zwischen Studie und Synode einzulassen, beschimpfte Bischof Bätzing seinen bischöflichen Mitbruder Voderholzer nach dessen kritischen Bemerkungen mit dem moralischen Keulenschlag von Anmaßung und Unanständigkeit.

Gerade nach dem kritischen Aufweis, dass „viele“ geistliche Missbrauchstäter ihre Schuld auf das System Kirche und institutionelle Bedingungen abschieben (externalisieren), verbietet es sich für die MHG-Studie, die These von den mitschuldigen Strukturen zu vertreten. Sie bestätigt ihre Ablehnung von externalisierter Schuldzuweisung bei einem Vergleich mit Tätertypen anderer Institutionen.

Wenn auf diesem Hintergrund die Bischöfe Marx, Bätzing und andere steif und fest behaupten, Missbräuche in der Kirche würden laut MHG-Studie durch systemische Faktoren verursacht und deshalb kirchliche Strukturreformen unbedingt notwendig seien, da nur durch diese Systemveränderung sexuelle Übergriffe in der Kirche minimiert würden, dann bleibt die Schlussfolgerung:

Die führenden DBK-Bischöfe instrumentalisieren den sexuellen Missbrauch für kirchenpolitische „Reformen“. Doch die neue Kirche des Synodalen Wegs, auf dem Sand der Fehlinformationen und Falschbehauptungen gebaut, wird keinen Bestand haben.


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