„Meine Zeit im Gefängnis“ – „Mein katholischer Glaube hat mich gestützt“

9. Juli 2020 in Aktuelles


Der australische emeritierte Kurienkardinal George Pell berichtet über seine Zeit als Unschuldiger im Gefängnis - „Die Professionalität der Wärter, der Glauben der Gefangenen und die Existenz eines moralischen Gespürs beindruckten mich“.


Sydney (kath.net/First Things/pl) Dieser Beitrag von Kardinal George Pell wurde zuerst auf „First Things“ veröffentlicht – © für die deutsche Übersetzung: kath.net
 

Hier in den Gefängnissen gibt es viel Gutes. Ich bin mir sicher, dass Gefängnisse durchaus auch die Hölle auf Erden sein können. Doch ich selbst hatte das Glück, in Sicherheit zu sein und gut behandelt zu werden. Die Professionalität der Wärter, der Glauben der Gefangenen und die Existenz eines moralischen Gespürs auch an den dunkelsten Orten beeindruckten mich.

 

Ich war dreizehn Monate in Einzelhaft, zehn davon im Melbourne Assessment Gefängnis und drei im Barwon Gefängnis. In Melbourne war die Gefängnisuniform ein grüner Trainingsanzug, aber in Barwon erhielt ich die leuchtend roten Farben eines Kardinals. Ich war im Dezember 2018 wegen zurückliegender angeblicher Sexualstraftaten gegen Kinder verurteilt worden, trotz meiner Unschuld und trotz der Inkohärenz der Anklage des Staatsanwalts gegen mich. Schließlich (im April dieses Jahres) hob dann das australische Höchstgericht die Klage gegen mich in einer einstimmigen Entscheidung auf. In der Zwischenzeit verbüßte ich meine für sechs Jahre angesetzte Haftstrafe.

 

In Melbourne lebte ich in Zelle 11, Einheit 8, im fünften Stock. Meine Zelle war sieben oder acht Meter lang und ungefähr zwei Meter breit, gerade genug für mein Bett, das ein festes Lager war und eine nicht zu dicke Matratze und zwei Decken aufwies. Auf der linken Seite, wenn man eintrat, befanden sich niedrige Regale mit einem Wasserkocher, einem Fernseher und einem Essbereich. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges war ein Waschbecken mit heißem und kaltem Wasser sowie eine Duschkabine mit gutem warmem Wasser. Im Gegensatz zu vielen Hotels existierte eine effiziente Leselampe in der Wand über dem Bett. Da ich einige Monate vor dem Antritt der Gefängnisstrafe künstliche Kniegelenke erhalten hatte, benutzte ich zunächst eine Krücke und bekam einen höheren Krankenhausstuhl in die Zelle, was ein Segen war. Nach den Gesundheitsbestimmungen muss jeder Gefangene jeden Tag eine Stunde draußen an der frischen Luft sein, und so durfte ich täglich zwei halbe Stunden in Melbourne verbringen. Nirgendwo in Einheit 8 gab es klares Glas, dadurch konnte dass ich zwar Tag von Nacht unterscheiden, aber von meiner Zelle aus nicht viel mehr sehen.

 

Auch die anderen elf Gefangenen habe ich nie gesehen. Allerdings habe ich sie gehört. Einheit 8 hatte zwölf kleine Zellen entlang einer Außenwand, an deren einem Ende sich die „lauten“ Gefangenen befanden. Ich selbst war dagegen im „Toorak“-Teil, der nach einem reichen Vorort von Melbourne benannt ist. Hier war es genauso laut wie am lauten Ende, doch ging es im Allgemeinen ohne Knalle und Schreie, die von gequälten und wütenden Mitgefangen verursacht wurden, die oft durch Drogen, besonders Crystal Meth, zerstört wurden. Ich habe mich immer gewundert, wie lange sie mit ihre Fäusten an die Wände trommeln konnten, aber ein Wärter erklärte mir, dass sie wie Pferde mit den Beinen traten. Einige überfluteten ihre Zellen mit Wasser oder verschmutzten sie absichtlich. Hin und wieder wurden die Diensthunde gerufen, oder jemand wurde mit Tränengas außer Gefecht gesetzt. In meiner ersten Nacht glaubte ich eine Frau weinen zu hören. Ein anderer Gefangener rief nach seiner Mutter.

 

Zu meinem eigenen Schutz war ich isoliert, da diejenigen, die wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt waren, im Gefängnis ein höheres Risiko haben, gewaltsame Angriffe und Misshandlungen zu erleben, ganz besonders Geistliche. Ich wurde auf diese Weise nur ein einziges Mal bedroht: Ich befand mich gerade in einem von zwei benachbarten Außenbereichen, diese waren durch eine hohe Mauer mit einer Öffnung in Kopfhöhe getrennt. Als ich am Zaun entlang herumging, spuckte mich jemand durch eine Kabelöffnung an und begann mich zu beschimpfen. Es war für mich eine totale Überraschung, also kehrte ich wütend zu der Öffnung zurück, um meinem Angreifer zu widersprechen. Er raste weg aus meinem Blickfeld, beschimpfte mich aber weiter als „schwarze Spinne“ und andere – keineswegs komplementäre – Begriffe. Nach meinem ersten Widerspruch schwieg ich. Danach beschwerte ich mich, dass ich nicht zum Sport hinausgehen würde, während sich dieser Kerl nebenan befände. Etwa einen Tag später teilte mir der Abteilungsleiter mit, dass der junge Angreifer versetzt worden war, weil er einem anderen Gefangenen „etwas noch Schlimmeres“ angetan hatte.

 

Bei einigen anderen Gelegenheiten während der täglichen langen Sperrzeit von 16:30 Uhr bis 7:15 Uhr am nächsten Morgen wurde ich von anderen Gefangenen in Einheit 8 denunziert und misshandelt. Eines Abends hörte ich einen heftigen Streit über die Frage meiner Schuld. Einer meiner Verteidiger kündigte an, er sei bereit, jenem Mann zu glauben, der öffentlich von zwei Premierministern unterstützt worden war. Die Meinung über meine Unschuld oder Schuld war unter den Gefangenen durchaus geteilt, ebenso wie meist in der australischen Gesellschaft, obwohl mir die Medien – mit einigen großartigen Ausnahmen – bitter feindlich gesinnt waren. Ein Korrespondent, der selbst Jahrzehnte im Gefängnis verbracht hatte, schrieb, ich sei der erste verurteilte Priester, von dem er gehört habe, der unter den Strafgefangenen Unterstützung habe. Und tatsächlich, ich erhielt nur Freundlichkeit und Freundschaft von meinen drei Mitgefangenen in Einheit 3 in Barwon. Auch die meisten Vollzugsbeamten in beiden Gefängnissen erkannten, dass ich unschuldig war.

 

Die Abneigung der Gefangenen gegen Täter, die wegen sexuellen Missbrauchs an jungen Menschen verurteilt wurden, ist im englischsprachigen Raum weit verbreitet – ein interessantes Beispiel für das Naturgesetz, das durch die Dunkelheit entsteht: Wir alle sind versucht, diejenigen zu verachten, die wir als schlimmer als uns selbst definieren. Sogar Mörder teilen die Verachtung gegenüber denen, die die Jugend verletzen. So ironisch diese Verachtung auch sein mag, sie ist nicht nur schlecht, da sie den Glauben an die Existenz von Recht und Unrecht, Gut und Böse zum Ausdruck bringt, die oft auf überraschende Weise in Gefängnissen zum Vorschein kommt.

 

Oft konnte ich morgens in Einheit 8 die muslimischen Gebetsgesänge hören. An anderen Morgen waren die Muslime etwas müde und sangen nicht, obwohl sie vielleicht still beteten.

 

Die Sprache im Gefängnis war grob und einfach, aber ich hörte selten Flüche oder Gotteslästerungen. Ein Gefangener, mit dem ich darüber sprach, hielt diese Tatsache eher für ein Zeichen des Glaubens als für ein Zeichen der Abwesenheit Gottes. Ich selbst vermute auch, dass die muslimischen Gefangenen keine Gotteslästerung tolerierten.

 

Gefangene aus vielen Gefängnissen schrieben mir, einige von ihnen regelmäßig. Einer war der Mann, der den Altar aufgestellt hatte, als ich 1996 die letzte Weihnachtsmesse im Pentridge-Gefängnis feierte, bevor es geschlossen wurde. Ein anderer gestand mir schlicht, dass er verloren und im Dunkeln war – ob ich ihm ein Buch vorschlagen könne? Ich empfahl ihm, Lukasevangelium zu lesen und mit dem ersten Johannesbrief anzufangen. Ein weiterer war ein Mann von tiefem Glauben und ein Anhänger von Pater Pio von Pietrelcina. Er hatte einen Traum, wonach ich freigelassen würde, doch erwies sich dies als verfrüht. Noch einer schrieb mir wiederrum, dass es unter den Berufsverbrechern ein Konsens war, dass ich unschuldig und Opfer eines abgekarteten Spiels geworden sei – und er fügte hinzu, es sei seltsam, dass Kriminelle diese Wahrheit erkennen konnten, aber nicht die Richter.

 

Wie die der meisten Priester hatte mich zuvor meine Arbeit mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt gebracht, so dass ich von den Gefangenen nicht allzu überrascht war. Die Gefängniswärter allerdings waren eine angenehme Überraschung. Einige waren freundlich, nur ein oder zwei neigten dazu, feindselig zu sein, aber alle waren professionell. Wenn sie eisern geschwiegen hätten, wie es die Wachen monatelang getan hatten, als Kardinal Thuận in Vietnam in Einzelhaft gewesen war, wäre das Leben für mich viel schwieriger gewesen. Schwester Mary O'Shannassy, die hochrangige katholische Seelsorgerin in Melbourne mit 25 Jahren Erfahrung, die gute Arbeit leistet (ein wegen Mordes verurteilter Mann sagte mir, er habe ein bisschen Angst vor ihr!) bestätigte, dass Einheit 8 gut besetzt und gut geführt sei. Nachdem ich meine Berufung beim Victorian Supreme Court verloren hatte, dachte ich darüber nach, keine Berufung beim Australian High Court einzulegen. Ich argumentierte, dass ich nicht an einer teuren Scharade mitarbeiten muss, wenn die Richter einfach derart zusammenhielten. Der Leiter des Gefängnisses in Melbourne (er war noch größer als ich ein größerer Mann als ich und ein guter Typ), drängte mich, durchzuhalten. Ich fasste erneuten Mut und bleibe ihm dankbar.

 

Am Morgen des 7. April berichtete das australische Fernsehen über die Bekanntgabe meines Urteils am Höchstgericht. Ich sah in meiner Zelle auf Kanal 7 zu, wie ein überraschter junger Reporter Australien über meinen Freispruch informierte. Die Einstimmigkeit der sieben Richter führte ihn erst recht in Verwirrung. Die drei anderen Gefangenen neben mir gratulierten mir. Bald wurde ich in die Welt des Corona-Lockdowns entlassen. Meine Reise war bizarr: Zwei Pressehubschrauber folgten mir von Barwon zum Carmelite Convent in Melbourne, und am nächsten Tag begleiteten mich zwei Pressewagen die sämtlichen 880 Kilometer nach Sydney.

 

Für viele ist die Zeit im Gefängnis eine Gelegenheit, über grundlegende Wahrheiten nachzudenken und sich ihnen zu stellen. Auch beseitigte das Leben im Gefängnis jede Entschuldigung, dass ich zu beschäftigt sei, um zu beten. Vielmehr stützte mich meine regelmäßige Gebetsordnung. Von der ersten Nacht an hatte ich immer ein Brevier bei mir (auch wenn es nicht immer das richtige Brevier für den Jahreskreis war) und ich erhielt jede Woche die Heilige Kommunion. Fünfmal besuchte ich die Messe. Allerdings durfte ich ihr nicht selbst vorstehen, was mir besonders zu Weihnachten und Ostern zusetzte.

 

Mein katholischer Glaube hat mich gestützt, insbesondere die Einsicht, dass mein Leiden nicht sinnlos sein muss, sondern mit dem von Christus, unserem Herrn, vereint werden kann. Ich fühlte mich nie verlassen, weil ich wusste, dass der Herr bei mir war – auch wenn ich in den meisten der dreizehn Monate nicht verstand, was Er tat. Viele Jahre lang hatte ich den Leidenden und Fragenden erzählt, dass auch der Sohn Gottes Prüfungen auf dieser Erde durchleben musste – und jetzt wurde ich selbst von dieser Tatsache getröstet. Also betete ich für Freunde und Feinde, für meine Unterstützer und meine Familie, für die Opfer sexuellen Missbrauchs und für meine Mitgefangenen und die Wärter.

 

George Kardinal Pell ist emeritierter Präfekt des Vatikanischen Sekretariats für Wirtschaft.


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