Der verborgene Gott

12. April 2021 in Kommentar


Gastkommentar von Pfarrer Stefan Thiel zu den Thesen des tschechischen Theologen Thomas Halíks vom verborgenen Gott


Dresden (kath.net)

Das Evangelium vom ungläubigen Thomas ist so interessant, weil es deutlich macht, daß die Schwierigkeiten mit dem Glauben nicht erst seit der Neuzeit bestehen. In der Osterbotschaft unseres Bistums wurden, wie schon zu Weihnachten, Gedanken des tschechischen Priesters und Soziologen Tomáš Halík verbreitet.[1] Er fragt sich, was wir mit religiösen Aussagen heute noch anfangen können und begegnet dieser Frage mit der Definition der Liebe, die dem hl. Augustinus zugeschrieben wird: „Lieben heißt: Ich will, daß du bist.“ Und er meint, daß es für den Christen nicht so wichtig ist, ob er an Gott glaubt, sondern ob er Gott liebt, das heißt, ob er sich danach sehnt, dass Gott ist. Dabei geht es ihm v.a. um die Nächstenliebe. Wir wüssten zwar nicht, ob und wie Gott ist, aber ich könnte ihn im Gesicht des anderen entdecken. Der leidenschaftliche Durst des Herzens nach Sinn, nach Liebe, nach Wahrheit und Gerechtigkeit dringe sicherer in das Herz Gottes als die Zustimmung des Verstandes zu definierten Artikeln des Glaubens. Die Barmherzigkeit des heutigen Sonntages der Göttlichen Barmherzigkeit wäre dann nur, dass wir alle in Liebe so annehmen, wie sie sind.

Er kommt darauf, weil das heute Vorherrschende bei allen, die nach Gott fragen, die Verborgenheit Gottes sei. Für Halík scheint es eine Tatsache zu sein, daß die Evolutionsbiologie Gott als unmittelbare Ursache der Naturgeschichte widerlegt, so wie Religions-, Geschichts- und Literaturwissenschaft Gott als Autor der Bibeltexte, Psycho- und Neurologie Gott als jemand, der unmittelbar in der Seele eines Menschen wirkt. Soziologie und Philosophie zeigen für ihn, daß es keine religiöse Wahrheit gibt, die sich nicht mit den Lebensumständen wandelt. Er glaubt nicht an ein „Jenseits“, wie es die christliche Überlieferung lehrt, und sagt: „Es existiert nur diese Welt hier.“[2] Für ihn sind das „Erkenntnisse und Errungenschaften“, die für den Glauben ein Segen seien, weil er dadurch frei sei von irgendwelchen Vorstellungen und Illusionen und vermeintlichen religiösen Sicherheiten. Und er behauptet, gerade dies sei auch die Botschaft der großen christlichen Mystiker, v.a. der großen Heiligen des Karmels, Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila. Für ihn ist es ein „tieferer Glaube“, der durch das Sperrfeuer der modernen Religionskritik gegangen ist und aufs Neue trotz allem glaubt, daß es Gott gibt, auch wenn er nicht so ist, wie der überlieferte Glaube von ihm behauptet hat, sondern ganz anders, verborgen, nicht erfahrbar, außer eben vielleicht in der Liebe zum Nächsten.

Es stimmt, daß die christliche Mystik mit der Erfahrung der „Wolke des Nichtwissens“[3] beginnt, mit der Erfahrung, daß Gott immer noch ganz anders ist, als ich ihn mir vorstelle, und daß das in die „Dunkle Nacht des Glaubens“ führt, in der ich lerne an Gott zu glauben, auch wenn ich ihn nicht spüre und erfahre, wenn ich leide und von mir aus nichts tun kann, um ihm näher zu kommen und die unerfüllte Sehnsucht nach Gott kaum auszuhalten ist. Doch Halík irrt sich zutiefst und verbreitet damit eine ganz fatale Irrlehre, wenn er meint, diese Erfahrung der Mystiker sei das gleiche wie die Erfahrung des modernen, wissenschaftsgläubigen Menschen, der die Sehnsucht nach Sinn hat, aber sich Gott nicht vorstellen kann. Denn so wie Sokrates erst sagen konnte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, nachdem er alles Wissen seiner Zeit gelernt hatte, so kommt die „Dunkle Nacht des Glaubens“ für den Mystiker erst, nachdem er Gott in der Kontemplation erfahren hat. Wenn Halík Gott als Autor der Bibel verwirft, bleibt doch noch immer die Frage: Hat Thomas den auferstandenen Jesus schließlich doch gesehen und seine Wundmale berührt, ist sowohl mit der Überzeugung seines Verstandes, als auch mit der existenziellen Bewegung seines Herzens vor ihm auf die Knie gefallen und hat gesagt: „Mein Herr und mein Gott!“, oder spielt das keine Rolle, weil wir es eben nicht wissen können?

Es stimmt, daß die Erfahrung Gottes in der mystischen Betrachtung ein unverdientes Geschenk Gottes ist. Doch auch wenn sie sich nicht wissenschaftlich, empirisch belegen läßt, ist sie real für den, der sie erfährt. Einer der großen Mystiker des 20. Jh., Thomas Merton, beschreibt, daß die Erfahrung der Gegenwart Gottes möglich wird durch die Barmherzigkeit Gottes, mit der Gott durch seine Liebe unsere Seele läutert. „Wir begreifen plötzlich, daß wir vor dem unendlich reichen Quell allen Seins und aller Liebe stehen, obwohl wir ihn nicht buchstäblich ‚sehen‘, denn unsere Begegnung vollzieht sich in der dunklen Nacht des Glaubens, so ist doch etwas in der tiefsten Mitte unseres Wesens, etwas am geistigen Gipfel unseres Lebens, das in freudiger Erregung aufglüht bei der Berührung mit ihm, der allmächtig ist. Der Funke, der durch die Berührung von Gottes Finger in uns entzündet wird, facht eine Flamme an, die sich fortsetzt, um jeder Fiber unseres Seins seine Gegenwart zu verkünden und ihn von unserem innersten Kern her zu lobpreisen. Allgemein gesprochen findet diese ‚Gotteserfahrung‘ des Betrachtenden auf zwei verschiedenen Ebenen statt. Als Jesus am Nachmittag des ersten Ostersonntags die zwei Jünger auf dem Wege nach Emmaus traf, ‚waren ihre Augen gehalten, und sie erkannten ihn nicht‘. Dennoch ‚brannten ihre Herzen in ihnen, während er unterwegs mit ihnen redete und ihnen die Schrift erschloß‘. Als sie aber das Dorf erreichten, das ihr Wanderziel war und Jesus, von ihrer Liebesglut genötigt, sich mit ihnen zu Tische setzte, um das Brot mit ihnen zu brechen, ‚wurden ihre Augen aufgetan, und sie erkannten ihn, und er entschwand aus ihrem Gesicht‘. Das erste Erkennen läßt uns an die allgemeine Erfahrung dessen denken, was wir ‚lebendigen Glauben‘ nennen, die zweite bietet eine gute Analogie für das, was wir mit Recht mystische Kontemplation nennen. Obwohl Glauben formal eine Sache des Intellektes ist, so ist es doch eine gefühlsdurchtränkte Wahrnehmung Gottes. Einerseits ist der Gott, zu dem wir durch Glauben gelangen, zugleich die unendliche Wahrheit und die unendliche Liebe, andererseits ist der Glaube, der zu ihm gelangt, ein Akt des vom liebenden Willen bewegten Intellekts.

So ist also in Wirklichkeit ‚lebendiger Glaube‘ ein Glaube, der auf die Wirklichkeit Gottes undeutlich mit einer Liebesbewegung antwortet. Der Glaube ist von Liebe durchtränkt. Er stellt einen lebendigen Kontakt zwischen der Seele und Gott nur so weit her, wie er von Liebe beseelt ist.“[4] Hier sind sich Merton und Halík einig, doch dann erklärt er, was Halík ausläßt: „Je heftiger aber die Liebe ist, die uns treibt, Gott unter den Gleichnissen der offenbarten Wahrheit zu suchen, um so ungestümer wird der Griff unseres Glaubens nach der verborgenen Wirklichkeit Gottes sein. So sind in der Erfahrung lebendigen Glaubens ‚unsere Augen gehalten‘, insofern als der Intellekt sich im Dunkel befindet und ohne eigentlichen Augenschein den dargebotenen Wahrheiten zustimmt. Wir erkennen nicht, wie nahe Gott uns ist, und doch ‚brennen unsere Herzen in uns‘ wegen der Glut unserer Liebe. Diese Liebesglut bildet eine Art indirekter Gotteserfahrung. Noch ohne zu wissen, wieviel diese Erfahrung bedeuten kann, kommt der Seele durch einfaches Nachdenken über diesen Liebesbrand zum Bewußtsein, daß er ein Zeichen oder eine Wirkung von Gottes Gegenwart sein muß. Und so sucht sie…“ Gott in stillem, betrachtendem Gebet in den Wahrheiten des Glaubens mit brennendem Herzen, bis plötzlich die Augen aufgehen in so einem kurzen Moment der kontemplativen überwältigenden Gotteserfahrung. Und aus dem Innersten des „…Dunkels spricht die Stimme des ewigen Christus, und nun, obwohl wir immer noch nicht behaupten können zu ‚sehen‘, erfahren wir in voller Wahrheit, was wir zuvor nur glaubten, und wir ‚wissen‘, daß er der Sohn Gottes, der König der Herrlichkeit ist und daß ‚er im Vater und wir in ihm sind und er in uns ist.‘“[5]

Erst dann kommt für den Mystiker die Erfahrung der „Dunklen Nacht“, die der heilige Johannes vom Kreuz beschreibt[6], mitten „…im durchbohrenden Licht des offenbarten Wortes, dem Licht der unendlichen Wahrheit. (Und) …wir fühlen uns vernichtet durch unsere eigene Undankbarkeit, unter dem Auge der Barmherzigkeit. Das ist die Erfahrung, die ein Mensch machen wird, der einst meinte, er hätte Tugend, der einst meinte, er hätte eine hohe Gebetsstufe erreicht, der einst vielleicht meinte, Gott wirklich zu lieben und Gottes Freund zu sein, und der dann eines Tages vor Gericht gefordert wird, um von allem gereinigt zu werden, was an seinem Traum zu menschlich ist… Gott scheint sein Angesicht abzuwenden. Gott scheint seine schützende Hand zurückzuziehen, und alle zuvor hochgeschätzten Dinge, die nicht Gott waren, haben sich mit dem Verlust seiner Gegenwart wie Schatten verflüchtigt. Diese Leere, dieses Gefühl geistiger Vernichtung, das uns allen gebührt als in Sünde geborenen und in Sünde alt gewordenen Menschen, das hat Christus auf sich genommen, dem es nicht gebührte. Er hat sich aller seiner Macht und Herrlichkeit entäußert, um in die eisige Tiefe von Finsternis hinabzusteigen, in die wir uns verkrochen haben, um uns zu verbergen, und wo wir in blinder Verzweiflung kauern.“[7]

Doch die Botschaft von Ostern, die in der Botschaft des Bistums keine Erwähnung findet, ist ja gerade, daß wir nicht in dieser Finsternis bleiben müssen, wenn wir in lebendigem Glauben der Wahrheit zustimmen, daß der verborgene Gott sich mit der Auferstehung Jesu gezeigt hat und mir in seiner Barmherzigkeit vergibt, wenn ich mich nur in der Verzweiflung als erlösungsbedürftig bekenne und ihn in mir leben und wirken lasse. Halík schließt damit, daß der erste Johannesbrief behauptet: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt“, doch er verschweigt, daß er in der Epistel dieses Sonntages sagt: „…das ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube. Wer ist es, der die Welt überwindet, wenn nicht der, welcher glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?“[8]

 

[1] Tomáš Halík: Gottlos werden oder Gott loswerden? Kann man heute überhaupt noch zeitgemäß an Gott glauben? (Vortragstext vom 27.02.2021): tlw. entnommen aus „Ich will, dass du bist. Über den Gott der Liebe“, Freiburg i.Br. 2019

[2] Ebd.

[3] „Die Wolke des Nichtwissens“ (engl.: The Cloud of Unknowing) ist der Titel einer Schrift über den mystischen Weg, die um 1390 in England in mittelengl. Volkssprache entstanden ist. Weil der Autor seinen Namen in seinem Werk nicht preisgibt, spricht man vom Cloud-Autor.

[4] Thomas Merton: Brot in der Wüste, Einsiedeln 1955, S. 138f.

[5] Ebd.

[6] Vgl. Johannes vom Kreuz: Dunkle Nacht, Darmstadt ⁸1987

[7] Thomas Merton, a.a.O., S. 144

[8] 1 Joh 5,4-10

 

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