Die Gretchenfrage der Pandemie

27. April 2021 in Kommentar


Das Virus stellt uns mit dem Tod eine unangenehme, aber unverrückbare Realität vor Augen, die jeden Einzelnen, aber auch die Gesellschaft zur Antwort auf eine Hauptfrage unseres Lebens ruft - Kommentar von Michael Koder.


Wien (kath.net/mk) "Hinter dieser Unwiderruflichkeit [des Todes], der wir uns jetzt stellen müssen, der wir uns als sterbliche Wesen eigentlich immer stellen müssen, verbirgt sich eine tiefe menschliche Wahrheit. Das Leben ist wertvoll, unendlich wertvoll. Lassen Sie uns das Leben schätzen." Diese Sätze könnten wohl von einem Bischof oder Priester stammen. Sie wurden aber vom österreichischen Bundespräsidenten Dr. Alexander Van der Bellen vor kurzem bei einer Gedenkfeier für die Corona-Toten gesprochen. Die Veranstaltung, bei der auch Vertreter der größten Religionsgemeinschaften zugegen waren, fand – nicht an einem (inter-)religiösen Ort, sondern bezeichnenderweise in der Aula der Wissenschaften statt. Das Staatsoberhaupt dachte im Namen der Republik darüber nach, was uns trösten könne im Augenblick des Verlusts eines geliebten Angehörigen. Eine Gretchenfrage sondergleichen, denn hier muss sich jeder überlegen: Glaube ich an ein Leben nach dem Tod?

Eben über diese Frage, diese Hauptfrage, die das Virus ungebeten auf‘s Tapet gebracht hat und die sich wohl jeder in dieser Corona-Pandemie insgeheim stellt, stellen muss, sei es in Bezug auf Angehörige, die einer Risikogruppe angehören, oder einen selbst betreffend – über diese Grundfrage gibt es in der heutigen Gesellschaft gerade keinen Konsens. Ein gläubiger Christ, Moslem oder Jude kann die Aussagen des Bundespräsidenten über die Unwiderruflichkeit des Todes und über den „unendlichen“ Wert unseres Lebens zwar zunächst einmal unterschreiben. (Abgesehen davon, dass sich Van der Bellen über das UNgeborene Leben nicht so wertschätzend zu äußern pflegt.) Der Gläubige bleibt hier aber nicht stehen, denn er blickt über die Schwelle des Todes hinaus und hat einen weiteren Begriff von Leben als von einem laizistischen Staatschef gemeint.

Mit diesem Glauben aber steht und fällt die gesamte Haltung eines Menschen im Umgang mit dieser Seuche. Bei den meisten politischen (Alltags-)Fragen ist das nicht so: Ob ich etwa Tempo 140 auf der Autobahn befürworte oder nicht, hat mit meinem Glauben an ein ewiges Leben sehr wenig zu tun. Für das „Pandemie-Management“ ist die Gretchenfrage aber nicht mehr marginal, sondern macht gerade den großen Unterschied. Die Religionsführer müssten sich daher eigentlich in ihren Haltungen und ihrem Umgang mit der Pandemie wesentlich von übrigen Meinungsführern  unterscheiden. Dass dem augenscheinlich bei uns nicht so ist, dass „alles, was in unserer Gesellschaft Rang und Namen hat“, angstverbissen auf Zahlen starrt, ist wohl nur damit zu erklären, dass ein solcher fester Glaube an ein ewiges Leben in den Herzen breitester Kreise der Bevölkerung schon verdunstet ist, und einer blendenden Angst vor dem Tod Platz gemacht hat. Eben das hat dieses wirre Corona-Jahr offengelegt.

In anderen Kulturen ist das noch anders. So hat etwa der rumänisch-orthodoxe Erzbischof Teodosie von Konstanza am Schwarzen Meer über die von der rumänischen Regierung geplante Einschränkung der orthodoxen Ostergottesdienste gesagt: „Wenn wir rund um die Uhr zur Apotheke dürfen, dann müssen wir auch jederzeit in die Kirche gehen dürfen. Denn die Seele ist nicht weniger wert als der Leib. Die Seele ist sogar wichtiger als der Leib.“ Mit einem solchen Glauben sind die Maßnahmen nicht mehr „alternativlos“, und auch das „Dogma“ vom religiös neutralen Staat hat sich damit als undurchführbar, unhaltbar entlarvt, denn eine solche Neutralität funktioniert jetzt nicht mehr: spätestens jetzt muss sich jede Gesellschaft entscheiden, ob sie den Tod als Ende ansieht, oder als Anfang.


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