Kardinal Müller zu Schisma-Möglichkeit: „Ich fürchte: Ja! und hoffe: Nein!“

6. Mai 2021 in Interview


Kardinal Gerhard Müller: „Es gibt keine deutsche Kirche außer in den Köpfen von autoritären, ihr Amt missbrauchenden Bischöfen, machthungrigen Laien-Funktionären und ideologisch verbohrten Professoren.“ kath.net-Interview von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) „Die zum pastoralen Super-Dogma erhobene ‚Lebenswirklichkeit‘ ist das von schlauen Opportunisten gezimmerte Trojanische Pferd, um ihre einfältigen Gegner zu übertölpeln. Jesus allein kennt voll und ganz unser Herz, und er weiß um die Lebenswirklichkeiten der Menschen im Guten wie im Bösen. Er ist der Erlöser von Sünde, Tod und Teufel. Er hat auf die Lebenswirklichkeit der damals üblichen Ehescheidung, den Neid und die Missgunst der Pharisäer, die politische Gewalt der Römer nicht mit Anpassung und dem ‚Paradigmenwechsel‘ der Glaubenslehre Israels reagiert.“ Das erläutert Kardinal Gerhard Ludwig Müller (Archivfoto), der emeritierte Präfekt der Glaubenskongregation, gegenüber kath.net. Im zweiten Teil unseres Interviews wollen wir uns mit Teilfragen beschäftigen, die sich aus dem Spannungsverhältnis von Ökumene und der Lehre der Römisch-Katholischen Kirche ergeben. Wir wollen damit auch die Grenzen ausloten, die einer Annäherung noch entgegenstehen. Link zu Teil 1 des Interviews.

Lothar C. Rilinger: Die Forderung des „Synodalen Weges“ zielt auf die sogenannte Interkommunion. Gibt es einen Unterschied im Verständnis des protestantischen Abendmahls und der katholischen Kommunion?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: An der Frage der hl. Messe als Opfer ist gerade die Einheit der abendländischen Christenheit zerbrochen. Luther, Zwingli und Calvin haben nicht einige Missstände um die hl. Messe herum, sondern das Zentrum der Eucharistie der katholischen Kirche, der sie selbst entstammten, als durch die Werkgerechtigkeit verdorben total abgelehnt. Die Folge war, dass von der bisherigen Messliturgie nur der Kommunionteil übrigblieb. Das Hochgebet mit der hl. Wandlung wurde gestrichen, weil man das Opfer der Kirche für eine Ergänzung oder gar Wiederholung des einmaligen Kreuzesopfers Christi interpretierte und somit ablehnen musste. Heute versuchen wir den ökumenischen Partner von seinen positiven Anliegen her besser zu verstehen und vermeiden jede Polemik. Das hat nichts damit zu tun, dass man die ernsthaften Unterschiede im Kirchen- und Sakramentsverständnis, die eine gemeinsame Kommunion oder einen Kommunionempfang bei der anderen Glaubensgemeinschaft von innen her unmöglich machen, verschweigen dürfte. Nur wer aus der Stiftung Christi eine Art innerweltliches Gemeinschaftsritual macht, sieht keine Probleme. Aber ein Christentum, das den Wahrheitsanspruch der übernatürlichen Offenbarung aufgegeben und sich auf Sozial-Ethik und Religions-Sentimentalität reduziert hat, sich also nur innerweltlich legitimiert, wird sich vor einer säkularisierten Öffentlichkeit nur lächerlich machen. Es braucht dann auch nicht über die selbstproduzierte Irrelevanz zu weinen.

Rilinger: Da im Rahmen der Ökumenischen Bewegung die Interkommunion gefordert wird, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Kommunion auch von Personen, die nicht durch die Taufe Mitglieder der Römisch-Katholischen Kirche sind, empfangen werden darf?

Kard. Müller: Wer nicht durch die hl. Taufe in die Gemeinschaft der Kirche eingetreten ist, hat nichts mit der Eucharistie zu tun. Wer nicht den ersten Schritt getan hat, kann auch nicht am Ziel angekommen sein. Von den Voraussetzungen des katholischen Kirchen- und Eucharistieverständnisses her ist nur in besonderen Fällen ein geistlicher Beistand durch einen nicht katholischen Geistlichen möglich. Er ist angebracht, wenn es in Todesgefahr um das Heil der Seele geht und ein Geistlicher der eigenen Konfession nicht erreichbar ist. Dies können die Absolution im Rahmen der Beichte und der Empfang der hl. Kommunion sein, wenn der Betreffende den katholischen Glauben zu diesen beiden Sakramenten innerlich bejaht und bekennt.

Rilinger: Grund für die Unterschiedlichkeit von Abendmahl und Kommunion ist das Opferverständnis. Wird sowohl in der katholischen Messe, als auch im protestantischen Gottesdienst jedes Mal Jesus Christus geopfert?

Kard. Müller: Am Kreuz hat sich Jesus selber für das Heil der Welt geopfert und zwar in einem Sinn, der mit einem heidnischen Gottes-, Kult- und Opferverständnis aber auch gar nichts zu tun hat und der auch das alttestamentliche Opferverständnis in den Schatten stellt. Aber nicht deswegen, weil es defizient gewesen wäre, sondern weil nur Christus als der menschgewordene Sohn Gottes durch den von der menschlichen Bosheit auferlegten Tod hindurch die größere Liebe Gottes offenbaren konnte. Durch diese Liebe sind Sünde und Tod für immer überwunden und ist in der Auferstehung das Leben Gottes für alle Glaubenden offenbar geworden.

Die Eucharistie als liturgische Feier ist die sakramentale, also zeichenhaft-reale Vergegenwärtigung des Lebensopfers Christi und seiner Auferstehung für alle, die in späteren Generationen durch das Wort der Verkündigung zum Glauben an Christus kommen. Denn Christus ist der real in der Kirche für alle Zeiten gegenwärtige Herr. Er selbst ist in der Messe derselbe Opferpriester und dieselbe Opfergabe, in der er am Kreuz seine Einheit mit dem Vater im heiligen Geist vollzogen und geoffenbart hat. Die kirchlichen Vorsteher – wie Bischof und Presbyter – sind durch die Weihe im Heiligen Geist zu dem liturgischen und spirituellen Dienst befähigt, den Jesus durch sie real ausübt. Deshalb heißen sie auch Priester – was nichts anders bedeutet als Presbyter – ohne jede heidnische Konnotation wie Kultdiener, die die Götter beeinflussen. Denn die Priester vollziehen nicht in eigener Initiative, sondern allein im Auftrag Christi auf der liturgisch-sakramentalen Ebene, was Christus, der Hohepriester des Neuen Bundes, für die Kirche tut. Wir als Gläubige stehen nicht wie stumme Zuschauer einer Theateraufführung passiv dabei, sondern sind als Glieder des Leibes Christi einbezogen und bringen aktiv unser Lebensopfer in, mit und durch Christus, unserem Haupt, Gott dem Vater, von dem wir ja alles, was wir ihm anbieten können, vorher schon empfangen haben, dar. Der hl. Augustinus hat im 10. Buch seines „Gottesstaates" diesen Zusammenhang des einmaligen Kreuzesopfers und seiner Vergegenwärtigung in der Liturgie der Kirche tiefgehend dargelegt. Ohne Kenntnis dieses Textes wird im ökumenischen Dialog nur Luftfechterei betrieben.

Rilinger: Folgt allein aus dem unterschiedlichen Opferverständnis, dass nur Katholiken die Kommunion empfangen dürfen oder auch Gläubige anderer christlicher Religionsgemeinschaften?

Kard. Müller: Die Lehre vom Opfercharakter ist – wie gesagt – eine klassische Kontroverslehre. Aber wichtig ist auch der für die katholische und orthodoxe Glaubenslehre wesentliche Zusammenhang von Kirche und Sakramenten, mit ihrem Höhepunkt in der Eucharistie. Von ihrer ganzen Anlage her ist das evangelische Kirchenverständnis nicht konstitutiv um die Eucharistie als Zentrum gebaut, sondern um den Glauben als Akt des Vertrauens, der auf der Ebene der Sakramente eine Vergewisserung erfährt. Im Dialog zwischen Katholiken und Christen evangelischer Konfessionen ist schon eine Annäherung dadurch erreicht, dass wir gemeinsam beten und das Wort Gottes hören können. Bei bestimmten Gelegenheiten, ich denke an Hochzeiten und Begräbnisse, nehmen wir auch an den Gottesdiensten der je anderen Gemeinschaft geistlich teil, ohne jedoch die volle Gemeinschaft der Kirchen durch den Empfang von Abendmahl bzw. Hl. Kommunion vorzuspiegeln – eine Gemeinschaft, die real noch nicht besteht.

Rilinger: Auch wenn es für den Empfang der Kommunion notwendig ist, das katholische Kommunionverständnis zu akzeptieren, stellt sich die Frage nach dem Warum?

Kard. Müller: Weil die Sakramente Selbstvollzug der Kirche sind. Denn die Kirche ist keine äußere Organisation, die irgendwelche Gnadenmittel verwaltet und an Gutwillige austeilt, sondern sie ist der Leib Christi, so dass das innere Bekenntnis und der äußere Ausdruck übereinstimmen müssen. Auch die evangelischen Kirchen haben 450 Jahre bis in die jüngste Zeit diesem Prinzip immer zugestimmt, und diejenigen protestantischen Gemeinschaften, die die Sakramente nicht als individualistische Bestätigungsmittel für ein liberales Religionsgefühl verstehen wollen, bleiben bei ihrem bisherigen Glauben.

Rilinger: Könnte nach Ihrer Auffassung das unterschiedliche Verständnis von protestantischem Abendmahl und katholischer Kommunion überwunden werden?

Kard. Müller: Ja, das ist das Ziel. Wir sind auf dem Weg zu einem gemeinsamen Grundverständnis gewiss schon vorangekommen. Aber das Ziel ist gerade auch beim Thema der Konsekrationsvollmacht durch einen von einem Bischof gültig geweihten Priester noch keineswegs erreicht. Ausnahmslos – der katholischen Lehre entsprechend – wäre von katholischer Seite die Verharmlosung von Gegensätzen im Glaubensbekenntnis zu theologischen Schulgegensätzen nicht zu akzeptieren.

Rilinger: Durch die momentan herrschende Pandemie finden kaum Präsenzmessen statt. Viele Gläubige vermissen deshalb den Empfang der Hl. Kommunion. Besteht infolge dessen, wie in der Evangelisch-Lutherischen Kirche, die Möglichkeit, dass der Priester Brot und Wein mit Hilfe des Internets über die Entfernung konsekriert, so wie ja auch bei Papstmessen oder Messen anlässlich der Weltjugendtage Hostien in sehr großem Umfang konsekriert werden, ohne dass alle Kelche mit den Hostien auf dem Altar Platz finden können?

Kard. Müller: Eine Fernkonsekration ist ein sakramententheologischer Widersinn und Missbrauch. Es kommt auf die leibliche Gegenwart an. Wenn allerdings Christus nur im Glauben des Empfängers und nicht in den eucharistischen Gaben wahrhaft, wirklich und wesentlich gegenwärtig wäre, dann wäre das Bild im Fernsehen eine virtuelle Vergewisserung, die zwar psychologisch, aber nicht sakramental wirksam ist. Christus ist wirklich mit Fleisch und Blut am Kreuz gestorben und nicht nur zum Schein wie die Doketen meinten. Gott bewahre uns im Zeitalter der Virtualität vor einem sakramententheologischen Doketismus im modisch aufgepeppten Gewand.

Rilinger: Aus der Bibel können wir keine Regel entnehmen, die die Voraussetzungen für den Empfang der Kommunion für Personen, die nicht römisch-katholisch getauft wurden, festlegt. Kann aus diesem Umstand hergeleitet werden, dass die Voraussetzungen lediglich von Menschen ersonnen worden und deshalb nicht göttlichen Ursprungs seien, so dass sie aufgehoben werden können?

Kard. Müller: Natürlich war in der Zeit der Bibel dieses Problem noch nicht aufgetaucht und darum findet sich dort auch nicht wie in einem Rezeptbuch die Anweisung, was bei allen zukünftigen Herausforderungen im Einzelnen zu sagen und zu tun ist. Aber das biblische Zeugnis enthält die ganze Offenbarung in ihren wesentlichen Zügen, so dass sich von daher auch die Lehre von der Trinität und der Inkarnation sowie alle anderen Geheimnisse, die von der Wahrheit der Offenbarung getragen sind, in ihrer Wahrheit behaupten und in ihrem Ausdruck entwickeln konnten.

Rilinger: Darf die ökumenische Bewegung so weit gehen, dass diese als eine „Ökumene qua Desinteresse“ theologische Unterschiede negiert, um die Einheit zu erzielen?

Kard. Müller: Wenn man alles auf eine Zivilreligion reduziert, sind nicht nur die Unterschiede obsolet, sondern auch die Grundeinheit im Glauben an den dreifaltigen Gott, die Gottheit Christi, die Notwendigkeit der Gnade, das ewige Leben. Der Indifferentismus und der Relativismus in der Wahrheitsfrage sind die falschen Freunde der ökumenischen Bewegung – in Wirklichkeit sogar ihre Totengräber.

Rilinger: Halten Sie es für sinnvoll, wie in einem Gerichtsverfahren die Einheit der Kirche dadurch zu erzielen, dass beide Seiten ihre Forderungen unter dem Prinzip des do ut des so lange zurücknehmen und so lange feilschen, bis ein gemeinsamer Nenner gefunden ist?

Kard. Müller: Die Ökumene ist Gehorsam zum Willen Christi, der die Einheit seiner Jünger will, damit die Welt glaubt, und nicht ein abgeschmacktes Feilschen oder gar ein primitiver Kuhhandel.

Rilinger: Dürfen durch den Wunsch, die eine Heilige Kirche herbeizuführen, konstituierende Voraussetzungen der Römisch-Katholischen Kirche aufgegeben werden?

Kard. Müller: Die katholische Kirche könnte sich selbst aufgeben, wenn sie eine bloß von Menschen gemachte religiöse Gruppierung wäre. Warum sollte sich ein Sportverein nicht auflösen oder mit einem andern vereinigen? Aber sie glaubt an den dreifaltigen Gott, der auch sein Volk zusammengerufen und die Apostel mit der universalen Verkündigung des Evangeliums und der sakramentalen Zueignung der Gnade in den Sakramenten beauftragt hat. Und somit glaubt die Kirche, dass sie in Christus „das allumfassende Sakrament des Heils der Welt ist" (II. Vatikanum, Lumen gentium 1; 48).

Gewiss mag uns ein Nichtkatholik diese Überzeugung empört als Selbstüberschätzung und Anmaßung vorwerfen oder im aufgeklärten Skeptizismus sich darüber lustig machen. Aber mit welchem intellektuellen und moralischen Recht behauptet er apodiktisch seinen Relativismus und bestreitet anderen – als einzelnen und als Gemeinschaft – das Menschenrecht der Glaubensfreiheit? Mir ist klar, dass er das aus der Gewissheit heraus vornimmt, dass es eine Offenbarung nicht geben könne und unsere Überzeugungen deshalb Projektionen sein müssten. Aber das ist auch nur wieder seine subjektive Meinung, die er nicht berechtigt ist, als Maß an andere Gewissen anzulegen.

Rilinger: Auch wenn immer noch konstituierende Unterschiede zwischen den einzelnen Konfessionen bestehen, können Sie sich vorstellen, dass diese zumindest in den Hintergrund treten, um dem Ziel näher zu kommen, die Christenheit zu vereinen?

Kard. Müller: In der klassischen katholisch-evangelischen Kontroverse geht es nicht um die Gotteslehre, die Schöpfung oder die Gnade, sondern um ihre Vermittlung in der Kirche und den Sakramenten. Gewiss sind wir in zentralen Artikeln des Glaubens vereint, wenn wir nicht auf ein liberales Kulturchristentum herabgesunken sind. Aber Kirche und Sakramente bleiben ein wichtiges Thema. Mit welchem Recht sagt einer, die Firmung, die sakramentale Buße, die Krankensalbung, die Priesterweihe, die Ehe als Sakrament, das Bischofsamt oder das Papsttum sind nicht wichtig? Sollen diese Wahrheiten wie im Schlussverkauf auf den Wühltisch des Relativismus landen?

Wenn der Glaube nicht mehr die Grundlage der Kirche ist, dann löst sie sich auf in eine Organisation mit ethischen und sozialen Zielen, in der aber privat jeder glaubt, was ihm beliebt. Das isoliert jeden in seinem Selbst, und alle sind nicht mehr verbunden in der geoffenbarten Wahrheit des heiligenden Gottes. Von der einen heiligen Kirche bliebe weder etwas Heiliges noch Einendes. Sie wäre nicht mehr „die Kirche des lebendigen Gottes, Säule und Fundament der Wahrheit" (1 Tim 3,15).

Rilinger: Muss die Kirche die Erkenntnisse aus den jeweils aktuellen sogenannten Lebenswirklichkeiten heranziehen, um die Lehre der Kirche zu interpretieren?

Kard. Müller: Nein. Die zum pastoralen Super-Dogma erhobene „Lebenswirklichkeit" ist das von schlauen Opportunisten gezimmerte Trojanische Pferd, um ihre einfältigen Gegner zu übertölpeln. Jesus allein kennt voll und ganz unser Herz, und er weiß um die Lebenswirklichkeiten der Menschen im Guten wie im Bösen. Er ist der Erlöser von Sünde, Tod und Teufel. Er hat auf die Lebenswirklichkeit der damals üblichen Ehescheidung, den Neid und die Missgunst der Pharisäer, die politische Gewalt der Römer nicht mit Anpassung und dem „Paradigmenwechsel" der Glaubenslehre Israels reagiert. Vielmehr hat er in Vollmacht den ursprünglichen Heilswillen Gottes gegen alle Verflachung und Verfremdung wieder zur Geltung gebracht. Er hat nicht nur die Welt anders interpretiert und hie und da etwas verändert, sondern ein für alle Mal zum Guten gewendet. Er begleitet nicht den Sünder auf seinem Weg in den Abgrund, sondern ruft ihn zur Umkehr, damit er „auf den schmalen Weg, der zum Leben führt", (Mt 7, 14) geht.

Rilinger: Auch wenn die Kirche nicht dem mainstream hinterher hecheln muss, um als modern angesehen zu werden, müsste sie nicht vielmehr versuchen, den mainstream nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen?

Kard. Müller: Das Einheitsdenken ist eine geistfeindliche Ideologie. Vom Standpunkt des Glaubens können wir mit den totalitären Ideologien nicht verhandeln, sondern müssen ihnen die Maske vom Gesicht reißen. Jede Demokratie einer pluralistischen Bürgergesellschaft auf der Basis der Gewissens- und Religionsfreiheit wurde und wird vernichtet durch die politischen Ideologien des Bolschewismus, Nationalsozialismus und des heutigen neomarxistischen Kapitalsozialismus in der westlichen Welt oder dem Genderwahn, der die im Leib des Menschen begründete Zwei-Geschlechtlichkeit leugnet und zerstören will.

Rilinger: Was verstehen Sie unter dem neomarxistischen Kapitalsozialismus?

Kard. Müller: In China haben wir eine Vermischung von Kapitalismus in der Ökonomie und dem Kommunismus in der Ideologie, so dass beide Systeme zu Mitteln der absoluten Herrschaft werden. Im Westen haben in der Corona-Krise die zehn reichsten Männer der Welt eine Wertsteigerung ihres Vermögens um 550 Milliarden Dollar erreichen können, während Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren haben oder unter die Armutsgrenze gerutscht sind. Zugleich sind wichtigste Medien in ihrer Hand. Sie haben somit das Deutungsmonopol über das Weltgeschehen, und man betrachtet das einfache Volk wie von ihnen zu betreuende Kleinkinder. Das ist eine neue Form der Vermischung von Kapitalismus und marxistischer Lenkung und Beherrschung der Massen. Warum wohl bewundern interessierte Kreise im Westen das chinesische Kontroll- und Überwachungssystem?

Rilinger: Können Sie sich vorstellen, dass – vergleichbar mit verschiedenen orientalischen katholischen Kirchen – einzelne römisch-katholische Nationalkirchen eine Selbstständigkeit erhalten, diese Kirchen zwar den Papst als Oberhaupt anerkennen, aber gleichwohl eine andere, eine eigene Verfassung aufweisen?

Kard. Müller: Nein, das wäre die Zerstörung der Kirche Christi und des katholischen Glaubens. Das Wesen der im Pfingstereignis zu Tage getretenen Kirche der endgültigen Heilszeit ist doch gerade, dass der Glaube verbindet, wo die Nationalität trennt. Es gibt keine deutsche Kirche außer in den Köpfen von autoritären, ihr Amt missbrauchenden Bischöfen, machthungrigen Laien-Funktionären und ideologisch verbohrten Professoren. Im Blick auf das Kirchenbild des II. Vatikanums sind diese Deutsch-Nationalkirchler nicht so fortschrittlich, wie sie meinen, sondern noch reaktionärer als sie scheinen.

Rilinger: Die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Ortskirchen und dem Vatikan über die Formulierung der Lehre wird in der Öffentlichkeit als Streit empfunden. Könnte dieser Streit den Verdruss an der Kirche verstärken und zu weiteren Kirchenaustritten führen?

Kard. Müller: Die menschlichen Schwächen und Mängel ihrer höheren Vertreter sind immer eine Prüfung unseres Glaubens, ob wir wegen Christus in der Kirche sind oder wegen sekundärer Gefälligkeiten. Aber sie sind nie ein Grund, sich von der Kirche zu trennen. Denn sie ist der sichtbare Leib Christi und der Tempel des Heiligen Geistes. Wer sich aber durch schweres Versagen, Streitsucht und Machtgier an der Einheit der Kirche versündigt, der trägt auch Verantwortung für den Verlust der – äußeren – Glaubwürdigkeit der Kirche. Die innere Glaubwürdigkeit der Kirche, das ist die hingebende Liebe Christi zu unserem Heil und das gute Beispiel der großen Heiligen, aber auch der unscheinbaren ernsthaften Christen, die uns im Alltag begegnen – diese Glaubwürdigkeit kann durch keine irdische Macht innerhalb und außerhalb ihrer Gemeinschaft zerstört werden (Mt 16, 18).

Rilinger: Könnte dieser Streit sogar zum Schisma führen?

Kard. Müller: Ich fürchte: Ja! und hoffe: Nein!

Rilinger: Danke, Eminenz.

Lothar C. Rilinger ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R., Stellvertretendes Mitglied des Niedersächischen Staatsgerichtshofes a.D.. Außerdem ist er Autor des Buches VRBS AETERNA. Bd.3

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