Walter Kardinal Brandmüller: Wege in die Krise

21. Juni 2021 in Aktuelles


Die Suche nach den Wurzeln eines Übels mit dem Blick auf das Morgen eröffnet neue Perspektiven. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/wb/as) Es ist leicht, über „DAS Konzil“ zu reden – „Gaudet Mater Ecclesia“. Gern wird dabei aber ignoriert, dass es sich um das 21. Ökumenische Konzil handelt. Die Kirchengeschichte beginnt also nicht im Jahr 1962. Dabei stellt sich doch die Frage, was in den letzten sechzig Jahren eigentlich geschehen ist. Angesichts des de-facto-Zusammenbruchs an vielen Orten und Stellen ist aber noch interessanter, wann und wie bestimmte Bewegungen begonnen haben, die sich dann in Erdrutsche verwandelten. Dabei braucht es eines geschichtlichen Blickes. Dass dieser dann später auch nicht von Ideologien und mafiösen Strukturen absehen kann, deren Kenntnis Wesentliches zum Verständnis beitragen, versteht sich von selbst.

„Kaum drei Jahre nach Abschluss des II. Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965 brach nicht der erwartete Frühling des Heiligen Geistes in der Kirche an“.

„Es wäre darum ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein, würden solchermaßen fehl- oder uninformierte Katholiken im Wissen um die Grenzen ihrer Kompetenz sich öffentlicher Stellungnahmen zu theologischen, kirchlichen Fragen enthalten.“

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Wege in die Krise. Von Walter Kardinal Brandmüller

Kaum drei Jahre nach Abschluss des II. Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965 brach nicht der erwartete Frühling des Heiligen Geistes in der Kirche an. Es brach statt dessen auf dem Essener Katholikentag von 1968 ein Proteststurm gegen die eben veröffentlichte Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. in bisher undenkbarer hasserfüllter Weise los. Der Sturm kann indes nicht aus heiterem Himmel, das Tief hatte sich seit Beginn des Jahrhunderts aufgebaut. Es ging erneut um den Modernismus, dessen die Grundlagen des Offenbarungsglaubens bedrohende Gefährlichkeit schon Pius X. erkannt hatte.

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs hatte jedoch die Auseinandersetzung damit in den Hintergrund treten lassen. Ein Übriges taten dann die Europa umwälzenden ideologisch-politischen Spannungen, die sich schließlich in der Katastrophe des 2. Weltkriegs entluden. Inter arma silent musae – im Lärm der Waffen verstummen die Musen –, und so kam es nicht zu einer seriösen intellektuellen Aufarbeitung der angehäuften philosophisch-theologischen Konflikte, zu der dringend gebotenen Grundlagendiskussion. Man wandte sich vielmehr aktuelleren Themen der Nachkriegsgesellschaft zu – und das eigentliche Problem blieb unbewältigt. Das also ist der Punkt, von dem seinen Ausgang nahm, was unser Heute belastet.

I

Nun aber ist die Frage zu stellen, wie denn unter den genannten Umständen sich die heutige geistesgeschichtliche Lage herausbilden konnte. Eine Frage, die zunächst die Theologie betrifft. Natürlich unterliegt auch sie den allgemeinen kulturellen Bedingungen ihrer Zeit – und die unsere ist durch den um sich greifenden Materialismus gekennzeichnet. In einer solchen Umgebung kommt, kam es seit langem, zu einem europaweiten Niedergang der klassischen humanistischen Bildung, der schlimme allgemein kulturelle Folgen zeitigt, besonders aber die Geisteswissenschaften betrifft, die ja zuallererst das korrekte Verständnis ihrer wesentlichen Quellentexte voraussetzen – und diese sind – nach den großen Denkern der Antike – Bibel und Kirchenväter, und die schrieben Griechisch und Lateinisch, vom Hebräisch des Alten Testaments zu schweigen. Im Maße, in dem diese Sprachen nicht mehr gelehrt, gelernt werden, wird der Zugang zu den Originaltexten verstellt.

Welche Missverständnisse das Verwiesensein auf Übersetzungen mit sich bringt, ist offenkundig. Das aber bedeutet, nimmt man den Niedergang des altsprachlichen Unterrichts zur Kenntnis, einen hochgefährlichen Verlust der elementaren Voraussetzungen seriöser Wissenschaftlichkeit nicht nur der Theologie.

Die Folgen dieses Mangels für Glauben und Leben der Kirche liegen auf der Hand. Sie zeigen sich unerbittlich in Predigt, Katechese und Liturgie. Nichtsdestoweniger – oder gerade deswegen – ist namentlich das Latein geradezu verhasst.

II

Dieser kulturgeschichtlichen Diagnose – und dem festgestellten Niedergang der wissenschaftlichen Theologie – tritt ein Ausfall des bischöflichen Lehramts an die Seite. Anstatt die literarische Produktion der Theologen kritisch zu begleiten, eventuell problematische Werke zu beanstanden, das kirchliche Imprimatur gegebenenfalls zu verweigern, ließen manche Bischöfe nicht Weniges unbesehen passieren, um sich nicht der Kritik der betroffenen Autoren oder der liberalen Öffentlichen Meinung auszusetzen.

Noch immer standen nicht wenige Bischöfe unter dem Eindruck des seit der Modernismuskrise der Jahrhundertwende nicht verstummenden Vorwurfs, die Kirche verweigere den Theologen die Freiheit der Forschung und Lehre und missachte so das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft. Folge davon war ein weitgehendes Versagen des Lehramtes gegenüber den nachkonziliaren Verirrungen. Der ohnehin seit Längerem laxen Handhabung der kirchlichen Druckerlaubnis für theologische Bücher folgte die bejubelte Abschaffung des Index der verbotenen Bücher durch Paul VI. Verlage, die bislang als katholisch gegolten hatten, sahen darin einen Freibrief für die Aufnahme fragwürdiger, ja häretischer Literatur in ihr Programm, erhoffte man sich davon einen Verkaufserfolg.

Ein herausragendes Beispiel hierfür war der Holländische Katechismus des Jahres 1966. Obwohl von einer durch Paul VI. eingesetzten Theologenkommission die Korrektur einer Reihen von Aussagen verlangt worden war, erschien schon 1968 die erste Auflage der deutschen Übersetzung ohne die geforderten Korrekturen. Noch in den ersten zehn Monaten waren bezeichnenderweise davon 400.000 (!!) Exemplare verkauft.

Im Einklang damit stand es auch, dass seitens der Bischöfe Theologen unbeanstandet blieben, wiewohl ihre Lehre im Widerspruch zum katholischen Glauben stand. Dies traf zunächst auf die prominentesten deutschen Moraltheologen zu, besonders aber auf dem meistgelesenen deutschen Theologen, Hans Küng. Er konnte des Schutzes von Bischöfen sicher sein, die, wie er, Alumnen des Päpstlichen Kollegs  Germanicum et Hungaricum gewesen waren. So etwa die Kardinäle Döpfner und Lehmann. Fühlten diese sich so an der Erfüllung ihrer Pflicht als Lehrer des Glaubens durch Freundschaftsbande gehindert, so war es auf der anderen Seite ein allzu großer Respekt vor der akademischen Gelehrsamkeit, der manchen Bischof vor entsprechendem Eingreifen abgehalten hat.

Nicht selten kam es auch dazu, dass bei der Einholung des für Lehrstuhlbesetzungen notwendigen Nihil obstat bei Studien- und Glaubenskongregation die befragten Bischöfe Bedenken bezüglich der Rechtgläubigkeit der Kandidaten mit Bedacht verschwiegen, um im Falle der Verweigerung zu erwartenden öffentlichen Protesten zu entgehen.

Weit konfliktträchtiger war jedoch der Fall, wenn die einst bei der Berufung erteilte Lehrerlaubnis wegen offenkundiger Irrlehre zu entziehen war.

Den Konkordaten gemäß musste der beanstandete Theologe nun seinen Lehrstuhl räumen. Nicht aber verlor er damit Beamtenstatus und Gehalt. Der Staat aber war nun in der Pflicht, den freigewordenen Lehrstuhl neu zu besetzen – was so zu einer Doppelbelastung der Staatskasse führte. Nun aber waren diese Konkordate zu einer Zeit verhandelt und abgeschlossen worden, zu der ein derartiger Fall eine große, spektakuläre Ausnahme war. Der eine oder andere Fall hatte sich etwa im Gefolge der Modernismuskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergeben.

Nun aber, nach dem II. Vaticanum, sahen sich die Bischöfe einer nicht vorhersehbaren Entwicklung gegenüber. Schon zu Beginn des Konzils war die Aufhebung des verpflichtenden Priesterzölibats diskutiert und damit entsprechende Erwartungen geweckt worden. Das allein hatte genügt, um eine Welle der Zölibatsflucht auszulösen, die auch Professoren der Theologie erfasste. Deren zivile Eheschließung hatte nun den Entzug der missio canonica – der kirchlichen Lehrbefugnis – zur Folge, mit welchem der zuständige Bischof die staatliche Seite zu der vom Konkordat vorgesehenen Neubesetzung des nun vakanten Lehrstuhls und der Versetzung des betroffenen Professors mit gleichem Gehalt in eine andere Fakultät verpflichtete. Das bedeutete angesichts der Häufung dieser Fälle eine nicht geringe Belastung des Staat-Kirche-Verhältnisses.

Es gab sogar manche Priester-Professoren, die mit der Bekanntmachung ihres Zölibatsbruchs bis zu ihrer endgültigen Verbeamtung gewartet haben, um ihren Beamtenstatus nicht zu verlieren. Das hatte zur Folge, dass Bischöfe in Fällen, in denen der Entzug der missio canonica wegen theologischer Irrtümer notwendig gewesen wäre, damit über die Maßen zögerten, um das Verhältnis zum jeweiligen Staat bzw. Bundesland nicht über Gebühr zu belasten.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was sich daraus – denkt man nur an den theologischen Individualismus dieser Jahre – an Folgen für die zuverlässige Vermittlung der authentischen Glaubens- und Sittenlehre der Kirche an die künftigen Priester und Religionslehrer ergeben mussten.

Das bedeutete in nicht wenigen Fällen den Zusammenbruch der Glaubensvermittlung in Predigt und Katechese mit den unausweichlichen Folgen für das religiöse Leben der Gemeinden.

All dies gilt es im Auge zu behalten, wenn man die gegenwärtige Situation des deutschen Katholizismus, soweit er in Räten oder Verbänden organisiert ist, einigermaßen zutreffend beurteilen will. Dass dessen Vertreter im Allgemeinen gläubige Katholiken sein und der Kirche aufrichtig dienen wollen, mag man gern annehmen. Wenn aber dieser gute Wille nicht selten Hand in Hand geht mit religiöser Unwissenheit, mit (unbewussten?) Widersprüchen zum Glauben der Kirche, so ist das zumeist wohl nur die Folge jahrzehntelangen Versagens von Predigt und Katechese. Bei bestem Willen – man weiß es eben nicht besser.

Es wäre darum ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein, würden solchermaßen fehl- oder uninformierte Katholiken im Wissen um die Grenzen ihrer Kompetenz sich öffentlicher Stellungnahmen zu theologischen, kirchlichen Fragen enthalten.

Die Theologen unter ihnen sollten sich hingegen vergewissern, dass sie sich im Einklang mit der authentischen Überlieferung der Kirche befinden. Nur in diesem Falle können sie der Kirche und der Welt wahrhaft dienen. Die Suche nach den Wurzeln des Übels mit dem Blick auf das Morgen eröffnet neue Perspektiven.

 


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