Müller: „Diskussion um Menschenrechte ist dringend, weil globalisierte Welt eine Grundlage braucht“

24. September 2021 in Interview


Kardinal Gerhard Ludwig Müller über „Die Natur als Grundlage des Menschenbildes“. kath.net-Interview von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die aus der Philosophie und der Theologie initiiert werden, haben auch immer das Bild vom Menschen geprägt. Wie sah der Mensch sich selbst an, wie ordnete er sich selbst als Teil der Welt oder – christlich gesprochen – der Schöpfung ein. Wurde er bedingungslos als Träger von Rechten angesehen oder als Sache, die im Eigentum anderer rechtsfähiger Menschen steht, wurde er als Gleicher unter Gleichen oder als jemand angesehen, dem die Menschenrechte in dem Umfange zustehen sollen, wie es seine Stellung in der Gesellschaft bedingt? Es sind Fragen, die zwar vordergründig auf dem Feld der Menschenrechte diskutiert werden, doch zur Grundlage das Menschenbild aufweisen, das von der Gesellschaft und ihren Mitgliedern vertreten wird. Was ist der Mensch? – müssen wir uns fragen. Ist er als Objekt eine Sache oder aber ein Rechtssubjekt. Es ist eine Frage, die das Menschsein in seinen Grundfesten berührt und freilich auch geeignet ist, diese zu erschüttern. Da die Diskussion seit Ende der Sklaverei, die Menschen als Sachen behandelte, wieder aufgeflammt ist und Menschen in die Dualität von Körper und Geist aufgeteilt werden und damit von der Evolutionstheorie ausgehend in tierischen Sachen und geisthabenden Personen, wollen wir uns in mehreren Gesprächen mit dem Menschenbild, aus dem sich die Menschenrechte herleiten, beschäftigen. Über diese Grundlage menschlichen Zusammenlebens haben wir uns mit dem Theologen und Philosophen, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, dem früheren Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre (2012-2017), besprochen.

Rilinger: Bevor wir uns dem Menschenbild zuwenden, müssen wir erörtern, was wir unter Natur verstehen. Müssen wir uns unter Natur eine creatio ex nihilo, etwas aus dem Nichts Herkommendes, vorstellen, was sich ohne ordnende Einflussnahme entwickelt hat und sich somit ausschließlich dem Zufall verdankt oder hat sich die Erde auf der Grundlage eines Gedankens Gottes gebildet, durch den der Welt Regelungen eingepflanzt sind, aus denen heraus die Entwicklung möglich ist?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Das ist die grundlegende Frage: Was ist der Mensch?

In der jüdisch-christlichen Tradition ist die Besonderheit des Menschen in seinem Erschaffen-Sein nach dem Bild und Gleichnis Gottes begründet. Der Mensch existiert und lebt auf Gott hin in einer alles relativ gegebenen und der Welt übergreifenden universalen Relation. Gott ist Ursprung und Ziel von allen Seienden, die durch sein Wissen und Willen ins Dasein getreten sind und die gemäß ihrer Wesensnatur und internen Zweitursächlichkeit im Dasein gehalten werden. Gott ist aber keineswegs der Demiurg, der sein Werk, die Welt und den Menschen, wie ein menschlicher Konstrukteur aus einem vorliegenden vergänglichen Material bildet – so wie wir es aus der klassischen griechisch-römischen Philosophie kennen. Dieser Philosophie – in einer idealistischen und materialistischen Version der Deutung des Seins des Kosmos – war die Einsicht in das personale oder trinitarische Gott-Sein Gottes und damit die Existenz der Welt aus einer Schöpfung aus dem Nichts völlig fern. Nach Platon und Aristoteles, um hier nur die größten Denker zu erwähnen, ist der Kosmos von der göttlichen Vernunft – dem Logos – durchdrungen. Somit erschließt sich der Sinn der Welt in der aus dem Logos ausgehenden Kausalität. Auf das Einzelding hin gesagt, ist dies die Kombination von Formal- und Materialursache. Auf das Ganze des Seins jedoch bezogen, manifestiert sich der Gott-Logos, also die sich selbst denkende Vernunft, in der Wirk- und Zielursache, die die Einzelseienden in den Sinnzusammenhang des ganzen Kosmos ein- und zuordnen (Gott, der bewegt, aber nicht bewegt wird; Gott, der angestrebt wird, aber, weil er unbedürftig ist, nichts außer sich selbst anstrebt.). Dagegen gibt es – vereinfacht ausgedrückt – die atomistische, alles aus mechanischen Wirkungen erklärende Weltsicht von Demokrit, Epikur und Lukrez. Alle Dinge und Erscheinungen der Welt stehen danach in einem umfassenden Kausalnexus. Aber das Ganze des Seins lässt keinen überragenden und durchdringenden Logos erkennen. Statt des Logos waltet über ihm das blinde Schicksal oder der Zufall. In diesem Sinn bleibt eine sich methodisch auf die mathematisch-geometrische Denkform und den mechanischen Kausalnexus beschränkte neuzeitliche Naturwissenschaft für das Universum als Ganzes und für die Entstehung des Lebens sowie die Einzigartigkeit der sich auf das Sein als solches hin transzendierenden menschlichen Vernunft nur ein undurchdringliches Rätsel, wie es Stephen Hawkins formuliert hat. Oder es kann im Blick auf die Entstehung des materiellen Substrates der menschlichen Vernunft, d.h. im Rahmen der Evolution der biologischen Spezies „Mensch“, nur die Deute-Kategorie des „Zufalls“ angenommen werden. Gemeint ist hier freilich nicht der absolute Zufall, dass also das, was ist, ohne den Grund seiner Existenz bestünde. Gemeint ist vielmehr der relative Zufall, dass nämlich das, was existiert, ohne Sinn ist oder ohne planende Vernunft zustande gekommen ist. Das zufällig Existierende hat demnach kein Wesen, das seine Bestandteile von einem inneren Prinzip her zusammenfasst und zu einem sinnvollen Ganzen vereint. Philosophisch nennen wir dies den Nihilismus, also die negative Erfahrung und die verzweifelte Meinung, dass das Sein ohne Sinn und Zweck ist und der Mensch sich bei seiner Suche nach dem Sinn von Sein und der Orientierung seines Handelns am Guten selbst zum Narren macht. Der Mensch wäre also bloßes Hineingeworfen-Sein in einen Abgrund, der unserem Taumeln und Stürzen nie Halt geben könnte. Er sei dazu verdammt, seiner faktischen Existenz autonom einen Sinn zuzuschreiben, weil sein Dasein für sich genommen wesenlos ist, wie es Jean-Paul Sartre (1905-1980) beschrieben hat.

Das Menschenbild der heute weltweit verbreiteten christlichen Kultur erwächst aber aus der Überzeugung des geoffenbarten Glaubens an den personalen, freien, souveränen Schöpfer-Gott. Seinen reflexiven und begrifflichen Ausdruck findet dieses maximal optimistische Menschenbild – in absoluter Negierung des Nihilismus und des hyperpessimistischen Existentialismus – unter positiver Anknüpfung an die platonisch-aristotelische Metaphysik des Seins sowie verwandter Philosophien der menschlichen Geistesgeschichte, wonach sich der reale Grund der Wesenhaftigkeit der konkreten Dinge – wie Mineralien und Pflanzen sowie in höherer Weise Tiere und Menschen – in seiner irreduziblen Individualität zeigt. Das Wesen des Menschen ist seine soziale und geist-leibliche Natur, die seiner Person zukommt. Person ist der Mensch insofern, als seine Existenz niemals Mittel zu einem Zweck ist. Deshalb ist die Person die höchste Verwirklichung des Seins.

In seiner Vernunft offenbart sich der Sinn seines einmaligen Daseins – in der Hinordnung auf Gott, den Logos, der bei Gott vor allem Anfang von Zeit und Raum, d.h. im ewigen Anfang seiner Gottheit im Sein seines Wesens war und der als der Sohn mit dem Vater und dem Heiligen Geist der eine Gott ist. „Alles (,was geworden ist,) ist durch das Wort [durch den Logos, durch die göttliche Vernunft und Liebe] geworden“ (Joh 1, 3) und „aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade um Gnade." (Joh 1, 16). Wir haben ein Wesen, aber nicht als starre Datenbasis materieller Prozesse und als bewegungshemmendes Netzwerk sozialer Kontrollmechanismen. Die geist-leibliche Natur ist vielmehr das Wesen des Menschen, durch das sich seine personale Transzendenz auf den Ursprung und den Sinn des Seins in Gott vollzieht. Die innerste Bestimmung seines Wesens ist sein Selbstvollzug in Freiheit – aber nicht in Absonderung von seiner Leiblichkeit oder in der Distanzierung von sich selbst und seinen Nächsten, sondern in der Liebe zu Gott über alles und zum Nächsten wie zu sich selbst. Das ist sein Ziel als Freiheit in Liebe.

Rilinger: Da die Welt nach dem Glauben der Christenheit von Gott geschaffen worden ist, ist die Natur einem göttlichen Plan unterworfen. Dadurch sind dem Menschen Rechtsvorstellungen intrinsisch und damit unaufhebbar zugeordnet worden, die wir als Naturrecht bezeichnen. Müssen deshalb diese Naturrechte Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens sein?

Kard. Müller: Es ist die Frage, auf welcher Grundlage unsere Rechtsordnung mit ihren Geboten und Sanktionen in einem Gemeinwesen beruht. Wie gerade gezeigt, ist für die abendländische Tradition der Begriff des Wesens des Menschen aus der Korrelation von Person und geist-leiblicher Natur entwickelt. Jeder Mensch steht denkend und wollend und fühlend sowohl biologisch als auch psychisch und sozial in einem Verhältnis zu sich selbst, zur anorganischen und organischen Umwelt, zur Gemeinschaft der Mitmenschen und – alles überragend und zusammenfassend – zu Gott, seinem persönlichen Schöpfer und Vollender.

In der Abwehr einer rein materialistischen Deutung der modernen Natur- und Humanwissenschaften wurde seit René Descartes (1596-1650) die geistige Welt scharf von der materiellen Welt abgesetzt. Es bildete sich der Dualismus einer reinen Denkwelt und einer reinen Körperwelt heraus. Der Mensch sei ein denkendes Selbstbewusstsein in einem Körper, der ganz den Gesetzen der Mechanik – in Leib und Seele – unterliegt. Geist steht in diesem Sinn beziehungslos neben der Natur. Im Menschen streiten sich die höhere geistige und die niedere Welt der Triebe sowie der Leidenschaften aufgrund der Naturzwänge, denen unser Leib (Frau als Mutter) unterworfen ist oder wir selbst in unserem gesellschaftlichen Rang als Adliger, Bürger, Arbeiter pp. vorgeprägt und eingeengt sind. In dieser Logik muss sich der Mensch von den gesellschaftlichen Rollenzwängen revolutionär befreien und sogar von den Bedingungen seiner leiblichen Konstitution als Mann und Frau oder sogar des Lebens überhaupt durch absolute Selbstbestimmung emanzipieren, indem er sich selbst ideologisch-politisch propagierte und juristisch einklagbare „Menschenrechte" auf Geschlechtsumwandlung, auf schon – im Begriff sinnwidrige –„Ehe mit einem Menschen gleichen Geschlechts" oder auf einen assistierten Selbstmord konstruiert.

Die dualistisch ansetzende Anthropologie, die die Einheit des Menschen in seiner geistleiblichen Natur schon im Ansatz verfehlt, tendiert immer zu einer Auflösung in einen Monismus. Dann ist der Mensch – in idealistischer Weise – nur Bewusstsein, das sich gegenüber der untergeistigen Sphäre seines Leibes abgrenzen muss. Dadurch wird die Tatsache negiert, dass wir Gemeinschaftswesen sind, so dass sich das Individuum in ein beziehungsloses Ich auflöst. Und umgekehrt wird der Mensch, wenn er materialistisch gedacht wird, auf ein biophysisches, ein technisches oder nur gesellschaftliches Konstrukt reduziert. Danach wäre der Mensch nichts anderes als eine Maschine, als ein höher entwickeltes Tier, das nur vom Willen zum Überleben vorwärtsgetrieben wird und dem gnadenlosen Kampf ums Dasein unterliegt. Weiter wäre er nichts anderes als der biologische Träger eines datenverarbeitenden Gehirns, das zur Vermeidung größerer Dysfunktionalitäten der absoluten Kontrolle seiner menschlichen Beziehungen, seiner Meinungen und sittlichen Urteile, seiner wirtschaftlichen und finanziellen Aktivitäten zu unterwerfen ist. Selbstverständlich beanspruchen die Konstrukteure dieser transhumanen oder posthumanen Entität auch die absolute Herrschaft und Kontrolle über ihr Produkt.

Eine selbsternannte Elite des politisch-finanziellen-massenmedialen Komplexes sieht in der Freiheit der Religion und des Gewissens, die das Zentrum des Wesensvollzugs des Menschen in seiner Unmittelbarkeit zu Gott bildet, die letzte Bastion, die der totalen Herrschaft von wenigen Menschen über die große Masse von ihres gleichen trotzt. Daraus resultiert ihre Verachtung des Christentums und ihr Hass gegen die katholische Kirche, die mit der Berufung auf Gott sich deren Programm, selbst der Gott der Menschheit zu sein (Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen [München 162020]), widersetzt. Ob diese Agenda im Sinne von verschwörungstheoretischen Hinterzimmer-Absprachen von den BigTech, dem SiliconValley oder von den Parteischulen der Kommunistischen Partei Chinas ausgetüftelt wird oder ob wir uns von der regierungsamtlichen Propaganda beschwichtigen und zu Verschwörungsleugnern umfunktionieren lassen, ist hier nicht die Frage. Die Folgerung ist nur, dass es ohne Freiheit keine Humanität gibt und dass ohne die Orientierung des Gewissens an Gott der Mensch seine unantastbare und unteilbare Würde nicht gegen die Machtansprüche weltlicher Konkurrenten wird behaupten können.

Rilinger: Im Naturrecht werden die Regeln der Natur aufgegriffen und als Recht deklariert. Doch in dieser Annahme ist die Frage versteckt, was die Natur denn ist und was sie für Regelungen enthält. Der Rechtspositivist Hans Kelsen verwirft den Rekurs auf das Naturrecht, das er als einen „Trugschluss“ bezeichnet. Er kam zu diesem Ergebnis, da in der Auseinandersetzung zwischen Robert Filmer, einem politischen Theoretiker des XVII. Jahrhunderts, und John Locke, einem Gegenspieler von Filmer, deutlich wurde, dass auch das Naturrecht nicht hätte letztverbindlich definiert werden können, sondern vom Herleiten durch Menschen erkannt werden muss. Während Filmer die Rechtfertigung der absoluten Monarchie in der Natur der Welt begründet sah und deshalb als Ausfluss des Naturrechts wertete, verwarf Locke diese Begründung und stellte darauf ab, dass sich das demokratische Staatssystem aus der Natur ergebe. Wie also kann Natur beschrieben werden, um aus ihr unhintergehbare Rechte ableiten zu können?

Kard. Müller: Die genannten Autoren machen ihre Zustimmung zu dem, was mit Naturrecht gemeint ist, abhängig von den politischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden. „Natur" bedeutet hier nicht sozusagen das Urwüchsige, das sich aus der Geschichte und Kultur instinktiv ergibt, so wie ein neu geborener Fisch im Unterschied zu einem Menschenkind nicht erst durch „Trainieren" schwimmen lernen muss. Natur ist hier das Wesen des Menschen, der, vermittelt durch seine Erfahrung der geschichtlichen Welt, die sittlichen Prinzipien erkennt, durch die er das Gute vom Bösen zu unterscheiden vermag, ja, dass er überhaupt die Vernunft in ihrem vernünftigen Vollzug begreift und sie in den Kategorien der Logik und den Worten der Sprache abbildet.

Auf die Politik bezogen kann die sittliche Vernunft bestimmte Herrschaftsmodelle – wie beispielsweise den königlichen Absolutismus, den ideologischen Totalitarismus oder die Pöbelherrschaft und jede Form von Rechtsordnung, deren Basis die Willkür der Mächtigen wäre – ausschließen, aber nicht eine bestimmte Regierungsform wie die Monarchie, die Aristokratie oder die Demokratie a priori als allein sittlich vertretbar postulieren. Im Übrigen: Nach Aristoteles ist pragmatisch gesehen die beste Staats- und Regierungsform eine Mischung der besseren Elemente der real existierenden Verfassungen. Das Naturrecht aber, von dem hier die Rede ist, meint allerdings das natürliche Sittengesetz, insofern uns die sittliche Vernunft lehrt und im Gewissen bestimmt, das Gute unbedingt, ohne das Schielen auf Vorteile, zu tun und das Böse ohne Furcht vor Nachteilen und Repressalien zu meiden. Was Juden und Christen durch die übernatürliche Offenbarung im Dekalog bekannt gemacht und mit göttlicher Autorität bestätigt erhielten, können auch die Heiden im Zeugnis ihres Gewissens als Differenz von Gut und Böse unterscheiden, insofern ihnen das natürliche Sittengesetz „ins Herz geschrieben ist". (vgl. Röm 2, 14f)

Rilinger: Wenn also Rechte nicht nur aus der Natur hergeleitet werden können, sondern diese vielmehr in der Natur selbst verankert sind, müssten diese Rechte freilich in jedem Kulturkreis gleichermaßen anzutreffen sein. Ist es vorstellbar, dass es Rechte gibt, die in jeder Kultur in gleicher Weise durch die Natur begründet sind?

Kard. Müller: Diese sittlichen Grundprinzipien, die wir im Dekalog als die Gebote Gottes erkennen, sind durchaus im Wesentlichen in allen Kulturen bekannt, wenn sie auch nicht immer in der Praxis realisiert werden und aus ihnen durchaus unterschiedliche Konsequenzen in Bezug auf die religiösen und kulturellen Gegebenheiten gezogen werden. Der Sklavenbesitzer beruhigt sein schlechtes Gewissen, indem er seinen armen Opfern das volle Menschsein abspricht oder ihr trauriges Los als eine verdiente Strafe rechtfertigt. Jeder Eroberer weiß, dass das wechselseitige Abschlachten von Menschen, das er mit seiner Aggression ausgelöst hat, der Vernunft der Humanität widerspricht, aber er rechtfertigt die Übel mit einem angeblich höheren Gut, das am Ende doch der Menschheit zugutekommen soll. Nichts ist aber unsittlicher als die Maxime: der – gute – Zweck heiligt die – bösen – Mittel.

Rilinger: Basiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 seitens der UNO auf der Vorstellung, dass der Mensch als Ebenbild Gottes angesehen wird, mit der Folge, dass alle Menschen gleich sind?

Kard. Müller: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist im eigentlichen Sinn eine Glaubenswahrheit. Sie beruht auf der übernatürlichen Offenbarung, die nur durch das Licht des Heiligen Geistes in ihrer ganzen Tiefe erfasst werden kann. Aber die natürliche Vernunft ist zu einem gewissen Grad auch in der Lage, in ihrem eigenen Licht die Sonderstellung des Menschen im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott zu erkennen. Die Verfasser der amerikanischen, polnischen (Mai 1791) und französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte waren zwar mehrheitlich geprägt von der Aufklärungs-Theorie der „natürlichen Religion", die angeblich dieselbe ist in der Vielfalt ihrer historischen Erscheinungen. Doch die Verfasser hatten nicht – wie sie meinten – eine geschichtslose Vernunft, die sie zu diesen allgemeinen Erkenntnissen führten. Konkret waren sie jedoch vom christlichen Menschenbild geprägt, wenn sie es auch seiner Grundlage in der übernatürlichen Selbstoffenbarung Gott beraubten.

Aber die endliche Vernunft der Menschen kann die Wahrheit nicht nur rein aus ihrem Begriff erkennen. Es bedarf auch der geschichtlichen Erfahrung. Diese lehrt uns, dass dort, wo die Allgemeinheit der Menschenwürde und der daraus folgenden Rechte des einzelnen Menschen und seiner natürlichen Gemeinschaftsformen wie Familie, Stadt, Volk, Staat Religion etc. gegenüber dem totalen Machtanspruch des Staates oder einer Ideologie zurücktreten müssen oder gar zynisch verleugnet werden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verheerende Verwüstungen durch Kriege, Völkermorde und Vertreibungen die Folge waren. Aus der Argumentation des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals von 1946 können wir bis heute viel lernen. Die desaströsen Wirkungen, die sich aus der Leugnung der Universalität der Menschenrechte zwangsläufig ergeben, sind der evidente Beweis ihrer unbedingten Gültigkeit.

Rilinger: Auch in der arabischen Welt sind Erklärungen über Menschenrechte abgegeben worden. Sie scheinen der Erklärung der UNO nachempfunden zu sein, allerdings stehen sie unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit der aufgeführten Menschenrechte mit den Regelungen der Scharia, die Ableitungen aus dem Koran sind. Wird durch diese islamischen Erklärungen der Menschenrechte unsere Vorstellung widerlegt, dass die in der Erklärung von 1948 aufgeführten Menschenrechte als allgemein und universal gelten?

Kard. Müller: Das Problem besteht in der nicht erfolgten Unterscheidung des Zwecks des Staates, der auf das irdische Gemeinwohl zielt, und der Religion, die in der freien Anerkennung und Verehrung Gottes gründet und auf die höhere, weltüberlegene Glückseligkeit zielt. Eine Religion, die nicht das Wahrheitsgewissen der individuellen Person und die Freiheit des religiösen Aktes anerkennt, pervertiert ihr eigenes Wesen. In einem Staat müssen Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen friedlich und freundlich zusammenleben können. Den Regierenden, Gesetzgebern und Richtern kommt aber keinerlei Autorität in Fragen der Philosophie und Religion zu, diese den Bürgern mit Gewalt oder Lockmitteln aufzudrängen. Eine Glaubensgemeinschaft beruht gesellschaftlich gesehen auf dem freien Zusammenschluss ihrer Mitglieder, die sich zu einem Credo und Kult bekennen. Auch der gesellschaftlichen Form der Religion gebührt gegenüber jedem Staat unbedingte Religionsfreiheit. Unabhängig von jeder menschlichen Gewalt definiert sie selbst, wie sie sich im Verhältnis zum höchsten Mysterium des Seins sieht.

Allerdings kann aus dem Verständnis einer Offenbarungsurkunde oder einer gewachsenen zivilen oder religiösen Rechtsordnung nicht die Verletzung der natürlichen Menschenrechte abgeleitet werden, wie es durch die fälschlich als Beschneidung genannte Verstümmelung von Mädchen im Genitalbereich, durch grausame Hinrichtungsarten oder ebenso durch eine Verbreitung des Glaubens mit kriegerischen Mitteln der Fall ist. Umgekehrt kann auch nicht aus den natürlichen Menschenrechten die Priesterweihe der Frau oder die sakramentale Ehe eines Mannes mit einem Mann statt mit einer Frau hergeleitet werden. Auch ergibt sich nicht der Anspruch auf ein Kind für ein gleichgeschlechtliches Paar aus dem Naturrecht, weil dies dem elementaren Recht des Kindes auf seinen Vater oder seiner Mutter widerspricht, bzw. im Adoptionsfall ersatzweise auf einen Mann als seinen Pflege-Vater und seine Pflege-Mutter.

Rilinger: Können wir noch von einer einzigen, überall in gleicher Weise definierten Natur sprechen, um Naturrechte begründen zu wollen, oder ist die Definition der Natur doch nicht allgemeinverbindlich, sondern eher auch eine Folge der natürlichen und kulturellen Entwicklungen, die ja auf der Welt nicht uniform verlaufen?

Kard. Müller: Überall existiert die gleiche Vernunft, auch wenn sie sich in verschiedenen Sprachen ausdrückt. Überall hat der Mensch Kultur, wenn auch in unterschiedlicher Weise und Qualität. Der Mensch ist entsprechend seiner realen Möglichkeiten ein Wesen des aufrechten Ganges, selbst wenn ein Kleinkind faktisch noch nicht gehen kann oder der kranke und alte Mensch das Gekrümmtsein seines Körpers als Defekt erleiden muss. Überall gibt es die gleichen Prinzipien der Logik, wenn auch die Folgerungen kulturell variieren.

Die katholische Kirche gibt es in den verschiedenen Kulturen, und sie verbindet in einer weltumspannenden Gemeinschaft ganz gegensätzliche Charaktere in demselben Glauben, in der gleichen Liturgie. Die Verschiedenheit in der Realisierung des Menschseins verhindert nicht die Einsicht, dass wir trotzdem Brüder und Schwestern einer Familie sind und uns dem einen Gott und Vater aller verdanken, der uns nicht als graue Masse, sondern in der Schönheit der individuellen Vielfalt geschaffen hat.

Rilinger: Die Erklärung der Menschenrechte seitens der arabischen Staaten steht teilweise im Widerspruch zu der Erklärung seitens der UNO. Ist es deshalb als eine geistige Kolonisierung der arabischen Welt anzusehen, wenn trotzdem die Erklärung der UNO Vorrang vor der arabischen haben soll?

Kard. Müller: Gewaltsame Kolonisierung ist immer von Übel. Aber man darf diese und andere negative Erscheinungen auch nicht zu einem polemischen Waffenarsenal umschmieden, um sich einer höheren Einsicht zu verschließen. Gewiss gab und gibt es unterschiedliche kulturelle Rahmenbedingungen im Verhältnis der Männer zu den Frauen. Aber das muss unterschieden werden von Gewalt und Unterdrückung, die nicht zu dulden sind. Man kann auch nicht den Männern zugestehen, in der modernen Welt der Autos, des Computers, des Smartphones, der allgemeinen Bildung zu leben und die Frauen auf die Bedingungen einer Feudalgesellschaft vergangener Zeiten festzulegen. Ein nüchternes Gerechtigkeitsgewissen kann uns helfen, die immer und überall geltenden geistigen und sittlichen Grundprinzipien von den immer sich wandelnden und hoffentlich sich auch verbessernden Lebensbedingungen der Menschheit zu unterscheiden.

Rilinger: Nach dem Evangelium ist der Kirche durch Jesus Christus selbst der Missionsauftrag übertragen worden. Könnte in diesem Auftrag eine gewollte und versteckte Kolonisierung der nichtchristlichen Welt gesehen werden, da in dem Missionsauftrag auch der Auftrag enthalten ist, der gesamten Welt das Sittengesetz, das sich aus dem Juden- und Christentum herleitet, als die wahre sittliche Grundlage des Lebens vor Augen zu führen und auch als allgemein gültige sittliche Ordnung zu proklamieren?

Kard. Müller: Kolonialisierung in der europäisch-amerikanischen Praxis gegenüber Ländern in Amerika, Afrika und Asien war nichts anderes als die Inbesitznahme eines anderen Landes oder die Aufrichtung einer Fremdherrschaft zur Ausbeutung anderer Völker. Der Missionsauftrag Jesu erging vor 2000 Jahren und ist genau die Fortsetzung der Predigt Jesu von der universalen Liebe Gottes, seines Vaters, für alle Menschen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt und auch nicht nach der Art der politischen Imperien sowie der Konzentrationen von Macht und Geld. Nur in der Freiheit des Glaubens kann der einzelne vom Evangelium angesprochene Mensch, welcher Herkunft auch immer, dem Wort Gottes entsprechen und sich auch frei dem Kreis seiner Jünger, der Kirche, anschließen.

Die Diskussion um die Menschenrechte ist deshalb so dringend, weil eine globalisierte Welt eine Grundlage braucht, die vernünftig begründet und als sittliches Postulat allen zugänglich ist. Das natürliche Sittengesetz sagt mit spekulativer und pragmatischer Evidenz, dass die umfassende Anerkennung der grundlegenden Rechte jedes Menschen auf sein Leben, seine körperliche Unversehrtheit und ethische Freiheit zusammen mit den materiellen Bedingungen ihres Vollzugs die notwendige Voraussetzung eines gedeihlichen Zusammenlebens der Völker in ihren eigenen Staaten wie auch im Weltverbund aller Staaten ist. Zwang, Terror, Krieg etc. verschaffen einzelnen Gruppen zwar vordergründig Vorteile im „Krieg aller gegen alle", aber bewirken langfristig die Niederlage aller. Haben etwa die Gefallenen und Verwundeten den Krieg gewonnen, selbst wenn die Führer ihrer siegreichen Nationen Kränze an ihrem „Heldengrab" niederlegen?

Rilinger: Halten Sie es für ethisch vertretbar, dass auf der Grundlage eines ideologisch geänderten Menschenbildes Menschenrechte die jeweilige und momentane Auffassung der Gesellschaft und des Staates wiedergeben?

Kard. Müller: Die gegenwärtig die westliche Welt überflutende LGBT-Ideologie entbehrt jeder Grundlage in der philosophischen und theologischen Vernunft und ist nur das Konstrukt einer Ersatzreligion für das verlorene und abgelehnte christliche Menschenbild. Das schließt nicht aus, dass auch in seiner Perversion noch die Goldkörner seiner ursprünglichen Fassung zu erkennen sind: Würde und Freiheit des Menschen, die positive und fruchtbare Bedeutung der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, die Geschlechtlichkeit als Gabe Gottes, die Teil der Verantwortung füreinander in der Liebe ist. Schlimm wird es erst, wenn – wie so oft in der Vergangenheit – Politiker, Finanzleute, Medienschaffende, Juristen ihre Macht missbrauchen, um der von ihnen für dumm und rückständig gehaltenen Masse des Volkes diese Ideologeme aufzudrängen und diejenigen, die sich ihrer Meinungsdiktatur nicht fügen, mit Sanktionen zu belegen. So ist – um ein Beispiel zu nennen – die objektive Wissenschaft dort unter die Räder der Ideologie geraten, wenn jungen Dozenten eine Anstellung an der Universität nur gewährt wird, wenn sie sich schriftlich auf die Genderideologie verpflichten.

Rilinger: Die Naturrechtslehre wird als eine katholische Sonderlehre angesehen, so dass sie nicht als allgemeingültig anerkannt ist. Kann sie durch eine Sozialethik, wie es der Theologe und ehemalige Vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Wolfgang Huber, vorgeschlagen hat, ersetzt werden, da diese auf der Grundlage „der Befähigung zum eigenen ethischen Urteil unter dem Gesichtspunkt verantworteter Freiheit“ gedacht wird?

Kard. Müller: Die Lehre von der Begründung der Menschenrechte in der geistigen und sittlichen Natur ist alles andere als eine katholische Sonderlehre, weil sie sich nicht aus der Offenbarung, sondern aus der jedem Menschen eigenen ethischen – und wie es Kant sagen würde – praktischen Vernunft ergibt. Die evangelische Theologie hat einen anderen Begriff von der aus dem Schöpfungswillen hervorgehenden menschlichen Natur. Demnach ist die Natur des Menschen durch die Ur- und Erbsünde total verdorben. Nach katholischem Glauben ist die Natur des Menschen durch die Sünde verwundet und wird durch die Gnade von diesem schweren Defizit befreit, dann aber auch erhöht und vollendet. Aber das ist eine andere Diskussion, in der es um innerchristliche Kontroversfragen um Sünde und Vergebung, Glauben und Gnade, Rechtfertigung und Heiligung geht. Bei der Frage des natürlichen Sittengesetzes geht es um die Frage, ob sich jede Religion nur im Kreis ihrer Anhänger bewegt oder ob es eine gemeinsame in der Vernunft begründete Beziehungsebene gibt, auf der wir über die Würde jedes einzelnen Menschen, über die soziale Gerechtigkeit und Sorge um die gemeinsame Umwelt, um die wohl ausgeglichene Nutzung der Ressourcen und den Frieden in der Welt nachdenken und zu allgemein verbindlichen Beschlüssen gelangen.

Rilinger: Sehen Sie außer der Naturrechtslehre andere Möglichkeiten, um nicht hintergehbares Recht zu formulieren?

Kard. Müller: Offen gesagt, Nein.

Rilinger: Eminenz, vielen Dank!

Archivfoto: Kardinal Müller im Presseraum des Vatikans (c) Michael Hesemann


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