Woran nehmen wir Maß, wenn wir von Kirche reden?

6. Februar 2022 in Kommentar


Es geht in der Kirche nicht in erster Linie um Konsens, sondern um Wahrheit. D. h. nicht, dass sich jemand in sicherem Besitz von ihr wähnen darf, sondern dass weiter darum argumentativ gestritten werden muss. Gastkommentar von Helmut Müller.


Frankfurt (kath.net)

Deshalb müssen Minderheitsvoten veröffentlicht werden, damit Christen, die in der Synode nicht zu Wort kommen, sich auch aktiv beteiligen können oder sich wenigstens auf einer breiteren Basis eine Meinung bilden können. Meinen Beitrag verstehe ich im Sinne einer ASO (Außersynodale Opposition). Für die jüngeren Jahrgänge zum Verständnis: Es gab ab 1966 – der Zeit der ersten großen Koalition von CDU und SPD eine außerparlamentarische Opposition (APO), die sich gegen eine bürgerliche Mehrheit wendete. Jetzt wendet sich eine biblisch-gesamtkirchlich orientierte Minderheit gegen eine eher ortskirchlich-liberale Mehrheit, so verstehe ich meine außersynodale Opposition.

Mit meinem Beitrag formuliere ich eine grundsätzliche Kritik an der Hermeneutik des synodalen Weges, auf dem offenbar darauf verzichtet wird sich von der Gegenwartsgesellschaft zu unterscheiden, in meinem Beitrag nur durchdekliniert an einem einzigen Begriff, es könnten auch andere Begriffe sein (etwa Licht der Welt, Salz der Erde, Stadt auf dem Berge o. ä.):

 

Signum levatum inter nationes im Alten Testament

Schon im Alten Testament sollte das Maß für Israel das Signum levatum inter nationes, sein, das hocherhobene Zeichen unter den Völkern. Das war der Grund, weshalb Mose berufen wurde, Israel aus Ägypten, dem Sklavenhaus mit vollen Fleischtöpfen herauszuführen. Sie sollten in der Wüste einen „reinen“ Gottesdienst feiern, der unbeeinflusst von „fremden Göttern“ war. Im „gelobten Land“ sollten sie unter anderen Völkern, Jahwe in einem Bund mit seinem Volk nach dem in der Wüste gelernten Ritus verehren. Schon in der Wüste rebellierte das Volk („Murrerzählungen“, Ex 15,22-27; 16; 17,1-7; Num 11,1-3; 11,4-35; 12; 13-14; 16-17; 20,1-13; 21,4-9) weil die „Fleischtöpfe Ägyptens“ anziehender waren als der Bund mit Jahwe. Gleichermaßen war es mit dem Kult: Der „Tanz ums goldene Kalb“ (Exodus 32, 1-6) mit dem willfährigen Aaron, kam besser an, als der abbildlose Gott des strengen Mose. Auch im Gelobten Land herrscht keine Zufriedenheit – „Wir wollen sein wie alle Völker und einen König haben.“ (Jotam-Fabel, Ri 9,8–15). Es wurden Propheten bestellt als „Wächter über das Haus Israel“.

Bis zur Ankunft des Messias war die Versuchung groß, werden zu wollen wie die anderen Völker. Und als er gekommen ist, wurde er vom Großteil des Volkes als solcher gar nicht erkannt, obwohl ein unmittelbarer Vorläufer, der letzte Prophet des Alten Testamentes - Johannes der Täufer - geradezu mit dem Finger auf ihn hingewiesen hatte. Jesus erweitert den Bund Gottes mit dem herausgerufenen Volk Israel aus dem Alten Testament auf die ganze Menschheit. So versteht sich auch die junge Kirche als Ecclesia, herausgerufen, das Evangelium vom Reich Gottes zu verkünden.

 

Signum levatum inter nationes im Neuen Testament

Das Signum levatum inter nationes wird im Neuen Testament mit einem Missionsauftrag verknüpft und hat folgende Merkmale:

1. Dieses Reich ist ohne Machtstrukturen konzipiert.

2. Sakrale Vollmacht rekrutiert zum Dienst.

3. In der Allegorie vom Leib Christi geht Hierarchie vom Haupt Christus aus und wird als orientierend verstanden.

4. Funktion der Hierarchie ist es, die einzelnen Glieder in ihren Diensten zu organisieren.

5. Die, die Leitung ausüben, sind berufen durch eine sakrale Vollmacht, die sich historisch im Weihesakrament auszeitigt.

6. Davor erfolgte wie bei allen anderen „Herausgerufenen“ die Eingliederung durch die Initiationssakramente in den Leib, dessen Haupt Christus ist.

Schon Jesus unterscheidet zwischen Sacrum (Gott) und Saeculum (Kaiser): Dienen durch Vollmacht und Regieren mit Macht. Im Laufe der Kirchengeschichte ist spätestens mit der konstantinischen Wende ein Konfliktfeld eröffnet worden. Seither finden wir Vollmacht immer mehr durch reale Macht kontaminiert. Bis in die Neuzeit äußert sich das als eine Auseinandersetzung zwischen Thron und Altar. Mit der Aufklärung wurde dieses Konfliktfeld immer mehr abgelöst und in einem „Aufstand gegen die Ewigkeit“ (Walter Hoeres) ein neues Konfliktfeld eröffnet. Dieses ist gekennzeichnet durch eine sich mehr und mehr vom sakralen Glauben befreiende säkulare Vernunft.

 

Signum levatum inter nationes im II. vatikanischen Konzil

Das II. Vatikanische Konzil mit seinem biblischen Ansatz wollte die Kirche wieder als Signum levatum inter nationes verstehbar machen. Das beinhaltete auch eine osmotische Durchdringung jeder Gegenwartsgesellschaft unter Wahrung der biblisch-kirchlichen Identität, eine Offenheit für den Geist der Zeit (wie die christliche Antike offen war für Plotin) und eine assimilative Abwehr des Zeitgeistes (wie sie sich damals angesichts der Konfrontation mit der Gnosis ereignete).

Vielfach wurde jedoch eine Karikatur dieses Ansinnens daraus. Stichworte in der Gegenwart sind Geist des Konzils oder Konzil der Medien. Diese Karikaturen des Konzils wollen aus der ursprünglichen Communio sanctorum ein Consilium – eine Ratsversammlung – machen. Die sich als autonom begreifende säkulare Vernunft nimmt ihr Maß an säkularen Formen der Legitimierung von Macht und will infolgedessen auch den sakralen Glauben säkular durchrationalisieren.

Das Signum levatum inter nationes wandelt sich dann von einem vernünftigen Glauben, der im Licht der Offenbarung das „Dunkel der Welt“ (Gustav Siewerth) erhellen sollte, in ein „Licht der Vernunft“, das in das Dunkel des Geheimnisses denken will, darin immer mehr agnostisch verharrt (z.B. Magnus Striet) und eigentlich gar kein Signum mehr sein will - und wenn doch, dann ein Signum flectum, das sich in die Gegenwartsgesellschaft konturlos integriert. Leiturgia, Martyria, Diakonia und Coinonia erfahren dadurch eine andere Fundierung. Es geht nicht mehr um die spezifische Wahrheit in diesen Merkmalen von Kirchlichkeit. Es geht nur noch um das Recht auf Meinungen und ihre Manifestationen in Vielfalt, sowie das selbst bestimmte Tätigwerden von möglichst vielen.

Die Kirche auf dem Synodalen Weg scheint mir diesen Weg zu gehen: Man scheint alles Sakrale, das noch begegnet, in die Normierungen und Muster der säkularen Gegenwartsgesellschaft drehen zu wollen, mit einer - allerdings ignoranten - Berufung auf die Humanwissenschaften. Häufig werden nämlich eigentlich deskriptive humanwissenschaftliche Fakten präskriptiv kommuniziert. Diesen, nicht auf den ersten Blick zu erkennenden Dreh ins Werk zu setzen, fällt den Protagonisten umso leichter, als aus der acies bene ordinata, dem geordneten Heerlager (wie vor allem die Katholische Aktion die Kirche verstand), ein Feldlazarett (Papst Franziskus) geworden ist.

 

Signum levatum inter nationes gegen sexuellen Missbrauch – leider auch in der Kirche

Hier setzt auch der Synodale Weg an; und er fügt noch einmal eine unmerkliche Drehung hinzu: Die seit Beginn des neuen Jahrtausends offenkundig gewordene „gewalttätige Sexualität“ (Bernhard Meuser, Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, Basel 2020, 155, 408) die im sexuellen Persönlichkeitsprofil des einzelnen Täters zu verorten ist, wird notorisch in eine (unpersönliche) „sexualisierte Gewalt“ verdreht und umfirmiert. Das führt dazu, dass nicht mehr die (fehlgeleitete) sexuelle Lust des Täters im Vordergrund steht, sondern das Machtgefälle in der Gruppe, zu der der Gewalttäter gehört. Die durch das Weihesakrament konstituierte sakrale Struktur der Kirche wird immer mehr nur noch auf den Machtaspekt reduziert. Aus der fehlgeleiteten sexuellen Lust des Täters, also „gewalttätiger Sexualität“ findet sprachlich unter der Hand ein Subjektwechsel zu „sexualisierter Gewalt“ statt. Der Ursprung der Gewalt in der ungezügelten Lust des einzelnen Täters wird semantisch so ins Systemische einer begünstigenden Struktur verlagert. Man darf mutmaßen, dass die missliebige sakrale Struktur, die in der katholischen Kirche nach Auffassung nicht weniger eine Zweiklassengesellschaft zementiert, in eine eindimensionale säkulare (alles auf Augenhöhe) verwandelt werden soll, in der diesem Webfehler, Geweihte - Nichtgeweihte, besser begegnet werden könne. Aber stimmt das?

Richtig an dieser wie auch immer erlebten Gewalt ist, dass männliche Sexualität physiologisch in archaischen Hirnstrukturen (Stichwort „Reptiliengehirn“) mit Aggression gepaart ist, indem das männliche Sexualhormon Testosteron ausgeschüttet wird. In soziologischer Perspektive wird diese „programmierte“ Aggression allerdings strukturell unterstützt, und sie spielt jeweils eine Rolle, wo es um ein Verhältnis von Vorgesetzten zu Untergegebenen geht. Das ist bei Sport-, Musik- und Reitlehrern nicht anders als bei Klerikern, wo es natürlich besonders verwerflich ist, wenn das Muster nicht durchbrochen wird, sind Kleriker doch zu Dienst und Heil bestellt und nicht zur Verkehrung in Unheil schaffen und Macht ausüben. Klar ist: Klerikaler Missbrauch kann nicht auf die Struktur gewalttätiger Sexualität reduziert (und verharmlost) oder andererseits in sexualisierte Gewalt umbenannt werden, nur um einem Hebel in der Hand zu haben, eine missliebige sakrale Struktur zu entlarven. Richtig ist, dass in einer Minderheit von Fällen und in abscheulicher Weise auch sexualisierte Gewalt im Wortsinn bei Klerikern vorkommt. Dieser Sachverhalt liegt vor, wenn gezielt und vollbewusst die klerikale Vollmacht als Macht – in all ihren Spielarten - missbraucht wird. Sexualisierte Gewalt bedeutet nämlich, Abhängige oder Besiegte – wie das in Kriegen der Fall ist – sexuell zu missbrauchen und die sexuelle Lust in einer besonders perfiden Form von Gewalt einzusetzen. Die ursprüngliche sexuelle Gewalttätigkeit in der Struktur der Persönlichkeit des Täters – wo Lust zur Sucht wird - darf nicht in einer kirchenpolitischen Strukturdebatte verzweckt werden, die ein ganz anderes Interesse hat und die Opfer ebenso vergisst oder missachtet wie der Täter. Ganz selbstverständlich ist aber, dass weder eine gewalttätige Sexualität noch sexualisierte Gewalt einen Schutzraum in der Kirche finden darf.

Ebenfalls selbstverständlich sollten alle Dienste, die in der Kirche ohne das Weihesakrament möglich sind, auch von allen ausgeübt werden können, die durch das Taufsakrament und besondere Charismen in die Communio der Kirche eingegliedert sind. Auch da sollte von Diensten und nicht von Macht und Gewalt die Rede sein.

Das Evangelium vom Reich Gottes und sein damit verbundener Auftrag zur Mission sollte weiterhin das Signum levatum inter nationes sein für kirchliches Handeln – und zwar für alle Empfänger des Taufsakramentes.

Das ist grundverschieden von einem irgendwie pluralen Aktivismus aller, der gängigen Agenden dienend, flache säkulare Hierarchien hervorbringt (Herrschaft der Gremien, Räte und Büros?), in denen möglichst alles „von unten“ bestimmt wird und Mission – also die Aktion, die über die Gemeinschaft der Handelnden hinausgeht - als übergriffig verstanden wird. Wir sind doch von Christus im Tauf- und Firmsakrament Gesendete und in der Eucharistie Gestärkte und so in die Welt Geschickte das Evangelium zu verkünden. Das ist schwer genug. Wir sind jedenfalls keine bloß von irgendwelchen Räten Gewählte um „Demokratie“ in der Kirche - aufkosten ihrer wesentlich sakralen Struktur - zu verwirklichen.

 

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