Transhumanismus und christliches Menschenbild

8. Juli 2022 in Interview


„Der Transhumanismus ist identisch mit dem klassischen Antihumanismus der atheistischen Ideologien, nur geschickter getarnt und besser verkauft.“ Kardinal Gerhard Ludwig Müller im Gespräch mit Rechtsanwalt Lothar C. Rilinger


Vatikan-München (kath.net) Der Kampf um das Menschenbild ist entbrannt. Die traditionelle Sicht auf den Menschen, die in der Natur begründet ist, soll durch das atheistisch-evolutionistische abgelöst werden. Der Mensch möchte sich von Gott lösen, um selbst zu definieren, was als ein Mensch zu verstehen ist. Geht das Christentum davon aus, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes angesehen wird, losgelöst von seiner Ausgestaltung und seinem Denken, immer als imago Dei, als Ebenbild Gottes, was die nicht hinterfragbare Gleichheit aller Menschen impliziert, geht das atheistisch evolutionistische Menschenbild, das sich im Transhumanismus zeigt, davon aus, dass die natürliche christlich gedachte Einheit von Körper und Geist aufgehoben wird, um sie durch den Dualismus von Körper und Geist zu ersetzen. Der Körper wird deshalb als Sache gedacht, so dass nur der Geist Träger von Rechten sein kann. Nicht der Körper bestimmt folglich das Geschlecht, sondern der Geist, nicht der Körper ist Inhaber von Menschenrechten, sondern der Geist. Das grundlegende Menschenrecht auf Würde wird infolge dessen nicht am Körper festgemacht, sondern am Geist. Damit wird die Würde als von Fleisch und Blut losgelöst gedacht und als der Natur widersprechend. Im Transhumanismus wird der Humanismus nicht mehr als dem Menschen von Natur aus innewohnend angenommen, sondern als Ausfluss menschlicher Wünsche, die dem Zeitgeist unterworfen sind. Die naturrechtliche Begründung von Menschenrechten wird als überholt gedacht. Menschenrechte sollen deshalb von Menschen nach ihren Vorstellungen konstruiert werden, um die jeweiligen Wünsche als Menschenrechte deklarieren zu können. Die Menschen sollen ihre Herkunft aus der Natur übersteigen, hin zu einem l´homme dénaturé, zu einem denaturierten Menschen, wie es Grégor Puppinck beschrieben hat. Hierüber haben Kardinal Müller und ich gesprochen.

Rilinger: In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschlands ist aufgeführt worden, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Damit ist festgelegt, dass jeder Mensch über die Würde verfügt. Im Transhumanismus soll sich die Würde aber nur am Geist festmachen, so dass Menschen, die über keinen Geist verfügen, auch das Recht auf Würde nicht geltend machen können. Ist es statthaft, den Menschen neu zu definieren, um einem Teil der Menschheit in legaler Weise die Würde absprechen zu können?

Kard. Müller: Der Transhumanismus ist identisch mit dem klassischen Antihumanismus der atheistischen Ideologien, nur geschickter getarnt und besser verkauft. Mit ihm erlebt der de-christianisierte „Westen“ die „Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche), nämlich seines suizidalen Nihilismus. Wenn Nietzsches Satz „Gott ist tot“ das Bewusstsein der Welt von heute widerspiegelt, dann ist klar, dass unter den Vorzeichen dieses Nihilismus „ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann.“ (M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1972, 201). Aus dem Schoß des Seins-verneinenden und Wahrheits-feindlichen Atheismus kriechen die menschenfressenden Monster des Jakobinismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Hunderte Millionen von Menschen sind ihre unschuldigen Opfer. Statt herrlicher Kathedralen zur Ehre Gottes errichten sie Konzentrationslager mit dem einzigen Ziel der Entwürdigung und Vernichtung von Menschen durch diejenigen Menschen, die sich für die Elite und Avantgarde der Menschheit halten. Ihre Gedenkstätten erwecken in den Pilgern nicht Jubel wie die bei den Christen der Anblick Jerusalems und Roms, sondern sie sind Orte des Grauens wie Babyn Jar und Katyn.

Der Transhumanismus ist das vierte Reich im Reigen der sich überstürzenden Nihilismen und ihr alles verschlingender Abgrund. Der Trans- oder Posthumanismus ist der schlimmste Vernichtungskrieg gegen die Menschheit und das denkbar brutalste Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Gegenwart und nächsten Zukunft.

Wir Christen und alle Menschen guten Willens und klaren Verstandes vertreten auf der Grundlage der Einheit von Natur und Gnade, von Vernunft und Glaube den „Humanismus mit Gott“, weil alle Ströme des „Humanismus ohne Gott“, wie ihn Auguste Comte, Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Nietzsche konzipierten, unweigerlich in die „Hölle auf Erden“ münden (vgl. Henri de Lubac, Über Gott hinaus: Tragödie des atheistischen Humanismus, Einsiedeln 1984). Der Humanismus mit Gott ist die Lösung der existentiellen Fragen, und der Glaube an ihn vermittelt die Erlösung aus der Not und Endlichkeit des Daseins in der Welt.

Denn Einer und Derselbe ist der Schöpfer und Erlöser. Der uns „nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, männlich und weiblich“ (Gen 1, 27), der hat uns auch von Ewigkeit her im „Voraus (zu unserer historischen Existenz in der Zeit) dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter seinen Brüdern sei.“ (Röm 8, 29)

Unter „Humanismus“ versteht man nicht nur eine bestimmte Phase der Philosophie- und Kulturgeschichte oder das gleichnamige Bildungsprogramm in Anlehnung an die griechisch-römische Klassik. Im weitesten und tiefsten Sinn umfasst der Terminus „Humanismus“ jene Auffassung des Seins, die den Menschen als denkendes, fühlendes, erlebendes, hoffendes, liebendes, sittliches Wesen als Maß und Mitte, Sinn und Ziel des Kosmos ansieht. Die Welt kommt erst im Selbstverständnis des Menschen zu sich selbst. Dann kommt sie als vom Menschen begriffene zur der transzendenten, die übersteigenden Frage des Menschen, warum es überhaupt Sein gibt, nämlich von Welt und Mensch. Das ist dann die notwendige Frage nach dem Prinzip, das Sein verleiht und Erkenntnis (die Selbsterkenntnis des Menschen in seiner Welterkenntnis) macht: Gott! Es ist die Frage, warum überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts. Der Mensch verhält sich geistig und leiblich zu sich selbst nicht wie zu einem Ding oder sieht sich als empirisch konstatierbaren Teil der Welt. Der Mensch ist ein endlicher Geist, in dem die Welt in den Prinzipien ihres Seins erkannt wird und sich als Medium seiner personalen Selbstverwirklichung darbietet. Aus dem Sein und Wesen Gottes als trinitarische Liebe, an der wir als Personen in Gemeinschaft untereinander teilhaben, folgt die Selbsttranszendenz und die Selbsterkenntnis, dass „der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann.“ (II. Vatikanum, Gaudium et spes 24)

Der Mensch hat eine das Sein begreifende Vernunft. Er ist keineswegs zu reduzieren auf eine Maschine, wie Julien Offray de La Mettrie in seiner atheistisch-naturalistischen Kampfschrift L’Homme Machine (1748) faselte, die – modernisiert gedacht – von einem intelligenten Programm gesteuert wird.

Also mit Klaus Schwab, dem Gründer und Nutznießer des Weltwirtschaftsforums Davos, gesagt: „Die heutigen externen Geräte […] werden mit ziemlicher Sicherheit in unsere Körper und unser Gehirn implantierbar sein. […] Diese Technologien können in den bisher privaten Raum unseres Geistes eindringen, wobei sie unsere Gedanken lesen und unser Verhalten beeinflussen“ (Klaus Schwab/Nicholas Davis, Shaping the Future of the Forth Industrial Revolution, New York 2018, 39; 28; ders., Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016). Das ist also die Verneinung der Würde und Freiheit der Person, mit dem die Menschheit zerfällt in die Masse der Kontrollierten, der besitzlos Glücklichen und Dummen und die kleine Elite der Kontrolleure und alles Besitzenden und Wissenden.

Der Mensch aber ist Person in der sittlichen Freiheit und geistigen Selbsttranszendenz auf den Grund des Seins. Wir sind also, wenn wir unser Sein in der Welt denkend begreifen, in unserem Selbst-Bewusstsein und Selbst-Wertgefühl über uns hinaus transzendental verwiesen auf das absolute Geheimnis des Seins und der Liebe, das in seinem Wort, in Christi Wort, sich selbst als Ursprung und Ziel des Menschen und in dem Menschen Ursprung und Ziel der ganzen Schöpfung bezeugt hat.

Nicht nur im Blick auf die tragischen Folgen des Antihumanismus, sondern auch hinsichtlich des Selbst-Verlustes seiner sittlichen Würde und geistigen Herrlichkeit ist der „de-naturierte“ Mensch nichts anderes als die Einladung zum kollektiven Selbstmord (vgl. Guido Preparata, Die Ideologie der Tyrannei, Berlin 2015). Ihr Interesse ist nur der Wille zur absoluten Macht über ihresgleichen, die sie zum Objekt und Material ihrer Agenda erniedrigen, um sie als das Rohmaterial ihrer infantilen Allmachtsphantasien zu vernutzen (vgl. Yuval Noah Harari, Homo Deus, München 2017; Zhao Tingyang, Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Berlin 2020). Der Mensch ist reduziert auf seine gesellschaftliche Funktion als Verbraucher, Kunde, Versorgungsfall, Arbeiter und Soldat. Zu diesem finanziell höchst einträglichen Betrieb gehört auch der Handel mit kriminell entwendeten Organen oder die kommerziell betriebene Leihmutterschaft.

Transhumanismus beginnt mit dem Wahn der Selbsterlösung und endet im Alptraum der Selbstzerstörung der Menschheit (vgl. Susanne Hartfield, Die Neuerfindung des Menschen, Augsburg 2021).

Das ist die Bestätigung der Einsicht: Ohne Gott ist alles sinn- und wert-los. Biblisch gesagt, sehen wir hier den Teufel am Werk, der zuerst die Wahrheit und dann das Leben zerstört: Der Teufel ist keine mythologische Witzfigur, sondern „der Mörder von Anbeginn und der Vater der Lüge.“ (Joh 8, 44) – der Spezialist der Perversion und Diversion, der Dekonstruktion, der aus der geschaffenen Zweigeschlechtlichkeit eine endlose Reihe von eingebildeten Varianten heraus-gendern kann.

Als Christen erkennen wir im Licht des geoffenbarten Glaubens, „dass Gott den Menschen nur ein wenig geringer gemacht hat als Gott und dass er von Gott gekrönt ist mit Pracht und Herrlichkeit und dass er eingesetzt ist als Herrscher über das Werk seiner Schöpfung.“ (Ps 8, 6). Aber auch von Seiten der philosophischen Vernunft erheben sich gewichtige Stimmen zur „Verteidigung des Menschen“ (Thomas Fuchs, Berlin 2020) auf der Basis der evidenten Einsicht in die leiblich-geistige Einheit des Menschen. Denn der Mensch ist als Individuum Träger seiner Wesens-Natur und damit als Subjekt oder Person das Höchste und Unüberbietbarste in der Seins-Ordnung und im Wert-Gefüge.

Rilinger: Im Transhumanismus wird von der Einheit von Körper und Geist Abschied genommen und ein Dualismus von Körper und Geist konstruiert. Diese Aufspaltung wird dadurch aufgezeigt, dass der ungeborene Mensch als „Zellhaufen“ und „Schwangerschaftsgewebe“, also als Sache denunziert wird. Ist es mit dem christlichen Menschenbild vereinbar, dass – wie zur Zeit der Sklaven – Menschen, die als Geschöpfe Gottes angesehen werden, als Sache bezeichnet werden?

Kard. Müller: Den anthropologischen Dualismus von Denken (res cogitans) und Ausdehnung (res extensa), also der unvermittelbaren Gegenübersetzung von Geist und Materie, hat uns – unbeabsichtigt – René Descartes (1596-1650) beschert. Damit begann die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie mit ihrem dialektischen Hin und Her von Idealismus (Rationalismus) und Materialismus (Empirismus, Positivismus). Entweder ist dann Alles (monistisch) nur und nichts anderes als Geist und die Materie ist folglich nur dessen Erscheinung oder sogar nur Gestaltungsstoff eines formalen Entscheidungszentrums. Oder Alles ist nur und nichts anderes als Materie, und der Geist als Selbstbewusstsein ist nur Epiphänomen an der stofflichen Materie des eigenen Körpers oder an der weiteren „Materie“ der gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Konditionen, die das Ich „erschaffen“ und auch beliebig umformen können.

Und das sind die Instrumente, mit denen die kommunistische Weltrevolution oder die liberal-kapitalistische „Neue Weltordnung“ durchgesetzt wird: Umerziehungslager, Orwell‘scher Überwachungstaat, Gehirnwäsche, Gleichschaltung des Sprechens und Denkens, Sozialkontrolle, social scoring, Gedankenpolizei, political correctness, sog. Antidiskriminierungsgesetze, mit denen gerade alles Normale kriminalisiert wird, Hate-speech-Terror, Schauprozesse. Verblüffend aktuell ist die Studie von Hannah Arendt aus dem Jahr 1951 „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Frankfurt a.M. 2021). Die Tötung eines Menschen wird umgedreht zu einem Recht auf Abtreibung, die körperliche Integrität und Selbstbestimmung zu einem Recht auf Selbstverstümmelung in der sog. Geschlechtsumwandlung, der verzweifelte Suizid alter und kranker Menschen in einen Gnadentod (Euthanasie). Der Mensch ist nach allen Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften und gemäß der philosophischen und theologischen Anthropologie eine organische Einheit seiner materiellen Körperteile und eine ihn zum unverwechselbaren Individuum machende personale Einheit seiner geistig-leiblichen Natur. Schon der Fingerabdruck und die DNA machen ihn körperlich-empirisch unverwechselbar. Die Seele, die uns zum individuellen Menschen macht, ist der Ausweis unserer unverwechselbaren und nicht austauschbaren Personalität. Werden Menschen in seinem frühesten Stadium als Embryo als Zellhaufen abwertet und damit zu einer Sache macht, sollte sich fragen, ob seine Gehirnzellen auch nur eine ungeordnete Ansammlung von Nerven sind, die, weil ihnen die Urteilskraft abgeht, zu solch empörenden Fehlurteilen kommen müssen.

Rilinger: Durch die Aufspaltung von Körper und Geist soll auch erreicht werden, dass sich das Geschlecht eines Menschen nicht nach seinem Körper richtet, sondern nach seinem Geist, so dass es beliebig bestimmt werden kann. Frauen, die sich der Einheit von Geist und Körper verbunden wissen, wird zugemutet, sich gemeinsam mit Männern, die meinen, sich als Frau zu gerieren, umzukleiden, WC´s zu benützen, Gefängniszellen zu teilen oder Wettkämpfe durchzuführen. Liegt in dieser Zumutung eine Negierung der Rechte der biologischen Frauen?

Kard. Müller: Hier offenbart sich das wahre Ziel des Genderwahns. Es geht nur darum, sich unsittlich den Menschen anderen Geschlechtes zu nähern und besonders von Seiten von Männern mit eindeutigen Absichten voyeuristisch sich an Frauen heranzumachen oder die Gelegenheit zu sexuellen Übergriffen zu finden, wie es in mehreren Fällen – wie in einem englischen Gefängnis geschehen – schon zur Vergewaltigung gekommen ist. Hier verletzt der Staat seine Fürsorge- und Schutzpflicht, wenn durch naturwidrige Gesetze Verbrechen begünstigt werden.

Rilinger: Das christliche Menschenbild ergibt sich aus der Natur, die den Menschen als Gesamtheit ansieht und deshalb den Geist untrennbar vom Körper denkt. Dadurch konnte erstmalig in der Geschichte der Menschheit der Rechtssatz aufgestellt werden, dass alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht, Herkunft, Religion pp. als im Rechtssinne gleich sind. Wäre deshalb die Aufspaltung des Menschen in Geist und Körper ein Rückschritt in der menschlich-intellektuellen Entwicklung, hin zu dem vormodernen Zustand, in dem die volle rechtliche Gleichheit aller Menschen nicht bekannt war?

Kard. Müller: Die Gleichheit aller Menschen vor Gott, die das absolute Daseinsrecht der je eigenen Persönlichkeit voll umfasst, ist auch die Basis und der Antrieb für ihre rechtliche und gesellschaftliche Realisierung in den unterschiedlichen Phasen der Menschheitsentwicklung. Das ist ebenfalls das Kriterium für die Rede von Fortschritt und Rückschritt. Nicht das jeweils Letzte ist das Beste, weil die zu ihrer Zeit sich gegenüber dem Christentum fortschrittlich und modern gebenden Totalitarismen Stalins und Hitlers in Wirklichkeit ein Rückfall in die Barbarei waren und eine totale Unterschreitung des Maßes des Menschlichen. Genauso sind heute die diversen Umerziehungslager, medialen Diffamierungskampagnen und Berufsverbote für normal Denkende ein Rückfall hinter die Freiheit und Würde der Person, mögen sich die Ideologen noch so sehr progressiv ausgeben.

Rilinger: In der atheistisch-evolutionistischen Weltanschauung wird der Geist nicht als Schöpfung Gottes angesehen, sondern als Ausfluss einer permanenten menschlichen Evolution. Nur wenn durch eine ständige Auslese der Geist geformt werde, könne er sich entwickeln. Die Trennung des Menschen vom Tier wird deshalb nicht als ein Akt Gottes angesehen, sondern als das Ergebnis eines Prozesses jenseits der Vernunft. Da die Vernunft nicht als Grundlage für die Entwicklung des Geistes akzeptiert wird, wird der Geist als Produkt des Zufalls angesehen. Ist es vorstellbar, dass sich der Geist ohne Einflussnahme Gottes lediglich zufällig gebildet hat?

Kard. Müller: Die Evolution des Lebendigen hin zur Ausformung von Spezies, die als der Natur individueller Lebewesen existieren, steht keineswegs im Widerspruch zur Schöpfung alles real Seiende in seiner jeweiligen Natur aus dem geistigen Willen Gottes – inklusive der Entwicklung der Pluralität der Spezies und der Zeugung der Individuen in der Folge der Generationen –, sondern ist ein Spiegelbild Seiner unerschöpflichen Güte. Auch das Triumphgeheul der Atheisten über die drei „Kränkungen des modernen Menschen“ (nach Kopernikus nicht mehr Mittelpunkt des Kosmos, nach Darwin nicht mehr die Krone der Schöpfung und nach Freud nicht mehr der Herr im Hause der von den unbewussten Trieben beherrschten Seele) wird den gläubigen Christen nicht wirklich erschüttern. Denn wir wussten schon immer, dass wir nicht notwendig existieren, dass wir aus dem Staub gemacht sind und wie die Tiere und Pflanzen sterben müssen und dass unser Geist nicht ein mathematischer Rechenapparat ist. Die Kontingenz unseres zeitlich und räumlich begrenzten Daseins auf Erden weist aber eher auf die göttliche Berufung des Menschen und die Erfüllung unseres Strebens in der Wahrheit und Liebe Gottes als auf den Gedanken, dass sich aus Nichts das Sein hervorgebracht habe oder dass wir unserer sinnlosen Existenz einen Sinn geben könnten. Wenn das Sein nur ein zufälliges und vernunftloses Produkt des Nichts wäre, wie könnte an einem nichtvorhandenen Kleiderbügel eines nicht vorhandenen Kleiderständers ein nicht vorhandenes Kleid aufgehängt werden?

Viel einfacher ist es einzusehen, dass Gott, der das Sein in unendlicher Fülle besitzt, es uns so mitteilt, dass wir ihn auch als das Ziel unserer Suche nach der Wahrheit erkennen und unsere Erfüllung in der Liebe zu ihm finden.

Rilinger: Wenn sich der Geist ausschließlich durch einen Ausleseprozess gebildet haben soll, könnte der Fortschritt in der Auslese auch den Umfang der Würde des Menschen bestimmen, schließlich soll – wie es der Biologe und Eugeniker Julian Huxley formuliert hat – die Qualität des Geistes das „Hauptkonzept unseres Glaubenssystems“ sein. Liegt in dieser Annahme die Gefahr, dass Menschenrechte in unterschiedlichen Ausmaßen zugeteilt werden?

Kard. Müller: Unsere gescheitesten Materialisten sind einfach nicht konsequent, wenn sie immer noch im strikten Gegensatz zu ihrem Prinzip des Monismus irgendwo doch einen Sinn der Menschheitsentwicklung sehen. Die Frage nach dem Logos der Schöpfung ist eben identisch mit unserem geistigen Sein, das immer schon über die bloß dinglich gegebene Welt kraft seiner auf Transzendenz gerichteten Natur hinaus ist. Was heißt hier schon Ausleseprozess? Mögen in einem Kampf Mann gegen Mann vielleicht öfter die Stärkeren oder in einem Krieg die Leute mit den brutaleren Methoden und stärkeren Waffen gewinnen. Das Maß des Menschlichen ist nicht das Überleben des Stärkeren im Kampf aller gegen alle um Weideplätze, Rohstoffe und Geschlechtspartner, sondern die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit, die dem Leben Sinn und Weihe geben. „Die Gottlosen meinen, wir seien durch Zufall geworden“ (Weish 2, 1) und es gelte das „Recht des Stärkeren“. In Wirklichkeit aber kommt es an auf die „Erkenntnis Gottes, der den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht hat.“ (Weish 2, 23). Deshalb dreht sich nicht alles um Reichtum und Macht, Geld und Gier, Glanz und Glimmer. Vielmehr bedürfen wir der „Weisheit, die ein Widerschein ist des ewigen Lichtes, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Güte“. (Weish 7, 26)

Rilinger: Wenn Menschenrechte je nach Umfang des Geistes zugeteilt werden, könnte auch die Partizipation am demokratischen Prozess eingeschränkt werden, indem sich das Gewicht der Stimme nach dem Ausmaß des Geistes richtet. Damit wäre das scheinbar eherne demokratische Gesetz des one man, one vote, die Gleichheit aller Stimmen, außer Kraft gesetzt. Führt eine solche Entwicklung zur Negierung demokratischer Grundprinzipien, ja, zur Aufhebung der Demokratie?

Kard. Müller: Das ist keine unmittelbar theologische Frage. Aber im Sinne unseres modernen Demokratieverständnisses nach so vielen tragischen Erfahrungen mit übergriffigen Potentaten ist dagegen zu fragen, wer für sich das Recht beanspruchen kann, anderen vorzuschreiben, ob und wen sie zu wählen haben? Das Votum ist eine freie Entscheidung und kann nicht in einer post-voting society nur auf eine Stimmungsumfrage reduziert werden, die irgendwie aus gespeicherten Daten der Wähler digital erhoben wird.

Genau an dieser Schnittstelle befindet sich der Übergang der Demokratie zur Diktatur der selbsternannten „Eliten“ wie der Milliardäre, der Medienpäpste, der Philosophenkönige etc., die die Demokratie nur noch zum Schein bestehen lassen. Wo Sokrates von der Mehrheit zum Schierlingsbecher verurteilt wurde, ein Aristoteles fluchtartig seine Hochschule verlassen musste, um den Athenern nicht ein zweites Mal die Gelegenheit zu geben, sich an der Philosophie zu versündigen, oder wenn unter dem Fallbeil der französischen Revolution die besten Köpfe abgeschlagen wurden, da ist spätestens die Freiheit der Demokraten an die Diktatur der Ideologen verraten worden.

Rilinger: Der natürliche Ausleseprozess wird im Transhumanismus nicht mehr als ausreichend gedacht, zumal der Mensch in seinem jetzigen Entwicklungsstand als nicht vollendet angesehen wird. Friedrich Nietzsche hat sich deshalb Gedanken über den Übermenschen gemacht. Der weiteren Entwicklung des Körpers misst er kaum eine Bedeutung zu. Doch durch den Geist soll der Mensch zum Übermenschen aufsteigen – was als Vollendung der Schöpfung gedacht wird. Ist es Aufgabe des Menschen, sich als Übermensch selbst zu erschaffen?

Kard. Müller: Aus dem Traum vom Übermenschen sind wir brutal gerissen worden, als an der Rampe von Auschwitz die Selektion von arbeitsfähigen und gleich zu vernichtenden Menschen durchgeführt wurde. Natürlich hat Nietzsche sich nicht vorstellen können, was wahnsinnige Polit-Verbrecher aus seinen verrückten Visionen machten, aber „Jenseits von Gut und Böse“ gibt es kein Kriterium mehr für das Gute, das unbedingt zu tun und das in sich selbst Böse, das immer und unter allen Umständen zu unterlassen ist. Der Sozialdarwinismus hat sich durch seine kriminellen Wirkungen von apokalyptischem Ausmaß ein für alle Mal selbst widerlegt, so dass jede Neuauflage auch unter schön klingenden Namen selbst schon ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Der Mensch ist von dem allweisen und allgütigen Gott gut geschaffen und auf das Gute hin geordnet. „Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ (Weish 2, 24). Und wir kommen aus der Falle des Bösen nur heraus durch die Rettungstat unseres Schöpfers, der in seinem menschgewordenen Sohn und durch dessen Tod und Auferstehung auch unser Retter und Erlöser geworden ist. Wir brauchen kein Gerede vom Übermenschen, der als Kontrastfolie den Untermenschen braucht. In Christus sind wir neu geworden und tragen in uns die Hoffnung auf die Unsterblichkeit. Der Indikativ zieht den Imperativ nach sich: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ (Eph 4, 24). Wir brauchen uns nicht zu überheben im Versuch zu „sein wie Gott“ (Gen 3, 5), weil wir durch seine Gnade und Liebe in Christus „teilhaftig wurden der göttlichen Natur“ (2 Petr 1,4).

Rilinger: Auch Leo Trotzki hat einen „höheren gesellschaftlich-biologischen Typus“ angestrebt, wie er es formuliert hat. Können wir in dem „Neuen Menschen“, der von ihm ebenfalls als „Übermensch“ gedacht wird, eine Höherstellung und Vollendung des Menschen im Kommunismus erkennen?

Kard. Müller: Weder durch biologische Züchtung noch durch technische Aufrüstung (Enhancement) wird es auf der ethischen und spirituellen Ebene des Menschseins besser. Die neuen Möglichkeiten in der Medizin und Technik, in der Produktion von Gebrauchsgütern und Nahrungsmitteln, der Kommunikation im globalen Maßstab und der internationalen Kooperation können die Lebensumstände des Menschen verbessern, wenn es Wissenschaftler, Unternehmer und Techniker, Politiker und Beamte gibt, die sich nach ethischen Maßstäben richten. Ansonsten kann man mit den Fortschritten in den materiellen Lebensbedingungen auch umso größeres Unheil anrichten, wie wir durch die atomare Selbstvernichtung und die irreversiblen Umweltzerstörung, um zwei Beispiele zu nennen, sehen können. Neu und besser wird der Mensch durch die Gnade Gottes, die er frei annimmt, um als Mensch dem sich offenbarenden Gott mit Verstand und Willen zu überantworten. „Dieser Glaube kann nicht vollzogen werden ohne die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes und ohne den inneren Beistand des Heiligen Geistes, der das Herz bewegen und Gott zuwenden, die Augen des Verstandes öffnen und es jedem leicht machen muss, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben.“ (II.Vatikanum, Dei verbum 5).

Rilinger: Auch Pierre Teilhard de Chardin hat sich Gedanken über den „Ultramenschen“ gemacht. Diesen denkt er nicht als neue Schöpfung eines Menschen, sondern als eine „Weiterentwicklung des Menschseins“, um die guten Eigenschaften des Menschen weiterzuentwickeln. Können Sie sich vorstellen, dass die Entwicklung zum Ultramenschen mit christlichen Vorstellungen vereinbar ist?

Kard. Müller: Wie gesagt liegt die Höherentwicklung des Menschen nicht in den äußeren Lebensbedingungen. Auch ein Mensch mit Superintelligenz kann Böses tun. Das Problem all dieser irrealen Hoffnungen liegt in dem Kategorienfehler der Verwechslung von Ethik und Technik. Theologisch gibt es kein Entweder-Oder von göttlicher Gnade und autonomer Freiheit des Menschen. Im gott-menschlichen Geheimnis Christi liegt die Lösung der Vernunftfrage und die Erlösung des Willens in der Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes und einer besseren und menschlicheren Welt. Gnade und Freiheit, Glaube und Vernunft sind die beiden Kräfte der Kooperation des Menschen mit Gott, dem Schöpfer und Retter der Welt. Weil Gott uns nicht geschaffen hat um eines Vorteils oder einer Bedürftigkeit willen, sondern weil er aus seiner unerschöpflichen Fülle unendlich viel mitteilt, ist allen Mühen und Enttäuschungen des irdischen Daseins zum Trotz das innerste Wesen des Menschen auf seine Teilnahme am Leben Gottes in Freude und Liebe ausgerichtet.

Rilinger: Im Transhumanismus wird der Tod als Krankheit bezeichnet, die überwunden werden muss. Der Geist soll durch die Technik weiterentwickelt werden, um dadurch die Unsterblichkeit zu erlangen. Durch den Prozess des human enhancement soll der Mensch verbessert werden. Dies kann durch Kosmetik oder Implantate erfolgen oder durch reproduktive Technologien wie Präimplantationsdiagnostk, um im Rahmen der Eugenik behinderte und kranke Menschen zu verhindern. Es wird allerdings auch darüber nachgedacht, durch human genetic engineering die Verbesserung zu erreichen. Dies soll durch das „Hochladen“ des menschlichen Geistes auf einen Computer oder Gehirn- oder neuronale Implantate erfolgen. Sind derartige technische und naturwidrige Verbesserungen des Menschen Ausdruck der Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst und Ausfluss des Willens sich als Neuschöpfer des Menschen aufzuspielen?

Kard. Müller: Der Tod kann mit technischen Mitteln nicht überwunden werden, weil wir biologische Wesen sind und darum einmal sterben werden. Das, was man hochladen kann, sind vielleicht einige frühere Gehirnleistungen, aber nicht sofern sie der leiblichen Person angehören, so wie ich im Buch eines verstorbenen Autors wohl mit seinen Gedanken kommunizieren kann, aber eben nicht mit ihm von Person zu Person. Die digital oder im Buchdruck gespeicherten Gedankenprodukte sind ja nicht der identische Mensch, der in seinem Ich gelebt, gefühlt, gelacht und gedacht hat. Zwischen Tod und Leben besteht eine absolute Grenze qualitativer Art und keineswegs nur ein relativer Unterschied, den man quantitativ verschieben kann. Die Alchemisten haben vergeblich versucht, den Homunculus zu erschaffen, aus Blei Gold zu gießen, den Stein des Weisen zu finden oder aus Mann und Frau einen Hermaphroditen zu zeugen. Der vernünftige Mensch setzt seine Hoffnung allein auf Gott und kann darum nicht von Menschen enttäuscht werden. „Verflucht der Mensch, der auf Menschen vertraut, auf schwaches Fleisch sich stützt und dessen Herz sich abwendet vom Herrn. […] Gesegnet sei der Mensch, der auf den Herrn vertraut und dessen Hoffnung der Herr ist.“ (Jer 17, 35.7).

Rilinger: Ohne eugenische Maßnahmen soll sich der Mensch nicht als Schöpfer des neuen Menschen gerieren können. Deshalb hat auch Julian Huxley der Eugenik eine bestimmende Rolle zu gewiesen. Die eugenische Verbesserung des Menschen steht im Zentrum der transhumanistischen Theorie. Ist eine eugenische Verbesserung des Menschen mit der Ethik des Christentums vereinbar, zumal sie nach den eugenischen Experimenten im Dritten Reich von den Siegermächten scharf verurteilt worden ist?

Kard. Müller: Die Eugenik ist eine Pseudo-Wissenschaft von den guten Erbanlagen, die über das Existenzrecht oder den höheren und geringeren Lebenswert eines Menschen entscheiden sollen. Damit wurden der Rassismus und die Züchtung angeblich höherer Menschen begründet. Eugenik und Euthanasie sind als Pseudowissenschaften abzulehnen. Medizinische Forschung muss immer dem kranken Menschen unter Berücksichtigung seiner unverletzlichen Menschenwürde dienen.

Rilinger: Zum Abschluss unseres Gesprächs lassen Sie uns noch einmal auf das Menschenrecht „Würde“ zurückkommen. Wie der Begriff „Menschenrecht“ ja aufzeigt, soll es ein Recht des Menschen sein. Allerdings wird in der transhumanistischen Diskussion darüber nachgedacht, die Adressaten dieser Rechte auszuweiten. Nicht nur Menschen mit Geist sollen diese Rechte zustehen, sondern auch Tiere, Pflanzen und sogar Robotern. Die kategoriale Sonderstellung des Menschen innerhalb der Welt soll dadurch überwunden werden. Ist diese Erweiterung vorstellbar?

Kard. Müller: Gewiss sind die Tiere keine Maschinen und haben einen Sinn in ihrer eigenen Existenz. Pflanzen sind rein zum Nutzen des Menschen oder zum Bestand der Welt notwendig und haben keine eigene Würde und schon gar nicht Maschinen und Roboter, die nur der richtigen Wartung bedürfen. Nichts ist vergleichbar mit der Würde des Menschen. Es ist auch die alleinige Eigenart des Menschen, dass er sich seiner Würde bewusst ist und in einem Akt der Selbstverneinung sich gegen die ihm von Gott verliehene Würde oder die Würde seiner Brüder und Schwestern aussprechen kann. Das Paradox des nihilistischen Atheismus von heute ist, zu meinen, das Gleichgewicht in der Natur herstellen zu können durch die – diabolische – Abwertung des Menschen zu einem Tier oder gar zu einer Sache und die sich – mit Gott verwechselnde – Aufwertung toter Dinge und von vernunftlosen Lebewesen zu Menschen, die mit Vernunft und freiem Willen und ihrer Fähigkeit (capax Dei), Gott zu erkennen und zu lieben, geschaffen sind.

Rilinger: Eminenz, vielen Dank!

Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net

Lothar Rilinger (siehe Link) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R. und stellvertretendes Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes a.D.

kath.net-Buchtipp
Lothar C. Rilinger: Deutschsprachige Theologen in Rom
Eine Begegnung mit ihren Gedanken
Taschenbuch, 310 Seiten
2021 Mainz Verlagshaus Aachen; Patrimonium
ISBN: 978-3-86417-169-7
Preis Österreich: 17.30 Euro


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