Die „Neue Weltordnung“ – eine Verschwörungstheorie oder doch eine politische Vision?

13. September 2022 in Interview


Kardinal Gerhard Müller: „Den Niedergang der Kirche in Deutschland und in Europa bewirkt nicht die Säkularisierung, der Kirchenkampf…, sondern der Mangel an Glauben, die erkaltete Liebe der Katholiken…“ kath.net-Interview von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Der Begriff „Neue Weltordnung“ wird als Metapher für eine Verschwörungstheorie gedeutet. Dabei umschreibt er nur einen Gesellschaftsentwurf, der sich – wie jeder andere auch – dem intellektuellen Diskurs stellen muss. Der Untergang des Kommunismus 1989/90 markiert das Ende eines historischen Prozesses, den der amerikanische Soziologe Francis Fukuyama als Ende der Geschichte bezeichnet hat. Der Kommunismus habe nach seiner Auffassung als Antithese zur Demokratie ausgedient, so dass eine neue gesellschaftliche Grundlage gedacht werden müsse. Damit war ein neuer Wettbewerb eröffnet: Es geht um die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung jenseits des Marxismus. Der Klassenkampf marxscher Prägung sollte ausgedient haben – was aber die Marxisten nicht zu akzeptieren bereit sind –, doch in dem Kampf um die Vorherrschaft im Diskurs über die Gesellschaft und den Staat wurde auch das demokratische Modell nicht mehr als Ideal angesehen. Das Prinzip one man, one vote wird mit der aufklärerischen Zeit assoziiert. Deshalb soll es überschritten werden, um der gesellschaftlichen Entwicklung das Attribut „Fortschritt“ beimessen zu können. Damit wird auf ein Prinzip abgestellt, wonach der Mensch – losgelöst von Gott, der nicht mehr als existent vorausgesetzt wird – alles machen darf, was er kann. Eine Selbstbegrenzung steht dem Fortschritt im Wege.

Da Gott als letzte Instanz menschlichen Handelns im Fortschrittsglauben abgelehnt wird, soll in der Neuen Weltordnung eine Gesellschaft konstruiert werden, die keine Grenzen kennt und in der alles erlaubt sein soll, was Menschen zu entwickeln und zu denken in der Lage sind; nichts soll dem Fortschritt im Wege stehen oder ihn in seiner Entwicklung hindern. Die Metaphysik wird als vormodern aus dem gesellschaftlichen Diskurs verbannt und damit auch der Glaube an eine Erlösung des Menschen in der Ewigkeit. Nur das soll gelten, was falsifiziert oder verifiziert werden kann, so dass die Erlösung des Menschen auf der Erde, im irdischen Leben, erfolgen soll. Was Karl Marx als Paradies auf Erden bezeichnet hat, soll auf andere Weise durch den Fortschritt, den die Neue Weltordnung prägt, erreicht werden. Da diese Weltordnung den Rekurs auf Gott negiert und ihn wie Feuerbach als nicht existent erklärt, ist es nicht verwunderlich, dass sich der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, auf den Plan gerufen empfindet und die Neue Weltordnung verurteilt. Wir haben mit ihm hierüber gesprochen.

Rilinger: Seit einigen Jahrzehnten geistert wieder die Forderung durch den politischen Diskurs, dass die bestehende Weltordnung durch eine ersetzt werden müsse, die nicht mehr den Rekurs auf Gott kennt, sondern nur denjenigen auf den unbedingten Fortschritt. Die Forderung nach dieser Weltordnung, die als „Neue Weltordnung“ bezeichnet wird, wird fast neben dem politischen, öffentlichen Diskurs erhoben. Was müssen wir unter der Neuen Weltordnung verstehen?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Sowohl nach dem jüdischem als auch nach dem christlichen Glaubensbekenntnis ist es Gott selbst, der in seiner souveränen Güte die Welt aus dem Nichts geschaffen und in seinem ewigen Wort (Logos, Vernunft) und Geist (Kraft, Weisheit) geordnet hat. Die menschliche Vernunft ist endlich und im Prinzip – aufgrund der Erbsünde – für egoistische Triebe, wie das ungeordnete Begehren nach Macht, Geld, Selbstgenuss/Lust, störungsanfällig. Der Mensch ist also intellektuell und moralisch fehlbar.

Nur wenn wir uns von Gottes Wort ansprechen und von seinem Heiligen Geist erleuchten, leiten und stärken lassen, können wir die Wahrheit erkennen und das Gute frei-willig als Ziel unseres Handelns wählen. Die historische Erfahrung lehrt uns, dass jeder Versuch, der Welt eine Ordnung durch Menschen-Verstand und durch Menschen-Macht zu geben, ausnahmslos in Katastrophen endete. Dazu brauchen wir nicht weit zurückzugehen. Der Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts, die totalitären Herrschaftssysteme des Nationalsozialismus, des japanischen Großmachtdenkens und des leninistisch-stalinistischen Kommunismus sowie alle Diktaturen kleinerer Staaten in Südamerika, Asien und Afrika beweisen, dass der Griff nach der Weltmacht, d.h. der Errichtung einer Neuen Weltordnung einem diabolisch-destruktiven und nicht einem theo-logischen Denken entsprungen ist.

Das Programm einer Neuen Weltordnung unter der Voraussetzung einer totalen Ökonomisierung des Menschen, bei dem selbsternannte Finanz- und Politeliten als denkendes und steuerndes Subjekt übrigbleiben, hat den Preis der Entpersonalisierung der Massen zur Folge. Der Mensch ist nur das biologische Rohprodukt, das zu einem Computer in einem totalen Netz von Informationen aufgerüstet wird. Es gibt dann keine Person mehr, keine Unsterblichkeit der Seele, kein Lebewesen mit Herz und Verstand, Gemüt und freiem Willen. Es bleibt ein Konstrukt ohne Heimat und Hoffnung.

Das beinhaltet die Reduktion von 99 Prozent der Weltbevölkerung auf eine ver-chipte Biomasse, auf Menschenmaterial oder eine Verbrauchergruppe, auf Bots. Der Mensch hat nur so viel „Wert“ („Wert“ ist hier ökonomisch, nicht moralisch gemeint), wie er für die Aufrechterhaltung dieses Herrschafts- und Ausbeutungssystems leistet und darin funktioniert. Die totalitäre Herrschaft ist in einer absoluten Bürokratie dann verwirklicht, wenn der Mensch als Mensch abgeschafft wäre. „Handeln würde sich als überflüssig erweisen im Zusammenleben der Menschen, wenn alle Menschen zu einem Menschen, alle Individuen zu Exemplaren der Gattung, alles Tun zu Beschleunigungsbegriffen in der gesetzmäßigen Bewegungsapparatur der Geschichte oder der Natur und alle Taten zu Vollstreckungen der Todesurteile geworden sind, die Geschichte und Natur ohnehin verhängt haben“, so schrieb im Jahr 1951 Hannah Arendt (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (München 2021) 959), während der Begründer und Betreiber des Davoser Weltwirtschaftsforums jüngst seine transhumanistischen Utopien so in die Welt hinein signalisierte: „Die heutigen externen Geräte […] werden mit ziemlicher Sicherheit in unsere Körper und unser Gehirn implantierbar sei. […] Diese Technologien können in den bisher privaten Raum unseres Geistes eindringen, wobei sie unsere Gedanken lesen und unser Verhalten beeinflussen.“ (Klaus Schwab/Nicholas Davis, Shaping the Future of the Forth Industrial Revolution (New York 2018) 39; 28; ders., Die Vierte Industrielle Revolution (München 2016))

Der Totalitarismus ist immer Hass auf das Leben, der Bevorzugung des mechanisch Reduzierbaren vor dem Lebendigen und Heiligen. Es wird von der Kontrollgruppe entschieden, wer leben darf oder sterben muss. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt Putin seine Truppen mobile Krematorien mitführen, um seine Macht innenpolitisch nicht durch die Bilder heimkehrender Särge zu gefährden.

Biden kündigt in den USA mobile Abtreibungs-Busse, inklusive Verbrennung der Kinderkadaver, an, um das Urteil des Supreme Court zu unterlaufen. Es geht um die Demonstration von moralisch entbundener Macht und das Recht auf Tötung von Kindern bis kurz vor ihrer Geburt. Dies ist für das Zeugnis der natürlichen und geoffenbarten Wahrheit Gottes umso schlimmer, weil sich beide – Putin und Biden – als Christen ausgeben. Aber vor dem Gericht Gottes gilt: „Die Übeltäter werden das Reich Gottes nicht erben.“ (vgl. 1Kor 6, 10).

In Russland wird bestraft, wer den brutalen Überfall auf die Ukraine statt „spezieller Militäroperation“ Krieg nennt. Im Westen wird der vor Gericht gezerrt, der die Kindstötung im Mutterleib Mord nennt oder vor den Tötungskliniken gegen sie demonstriert. In China wird Organhandel unter grausamer Missachtung der Selbstbestimmung der Personen, denen die Organe geraubt werden, betrieben. Mit der Not der Frauen in armen Ländern machen „westliche“ Agenturen in reichen Ländern das schmutzige Geschäft mit der Leihmutterschaft. Das sind nicht Alpträume, die sich beim Erwachen in der Realität auflösen, sondern die Wirklichkeit, die zum Alptraum geworden ist.

Rilinger: Die Verbannung Gottes aus dem Leben der Staatsbürger ist eine aufklärerische Forderung, die im Nihilismus, den Nietzsche nicht müde wurde zu predigen, die höchste Ausprägung erfahren hat. Hat die Geschichte den Beweis erbracht, dass ein Staat oder eine Gesellschaft ohne Gott gelingen kann?

Kard. Müller: Niemand geringerer als die bedeutende Philosophin und hellwache Analytikerin des modernen Totalitarismus, Hannah Arendt, hat das „nihilistische Credo des 19. Jahrhunderts“ mit dem Dostojewski-Wort auf den Punkt gebracht: „Alles ist erlaubt“, dann nämlich, wenn der Mensch nicht an Gott als seinen Schöpfer und seinen Richter glaubt. (Hannah Arendt, Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? (München 52020. 43; Vortrag erstmalig 1964/65 gehalten). Es gibt zwar seit dem Frühaufklärer Pierre Bayle (1647-1706) nicht wenige Versuche, eine atheistische oder evolutionär-materialistische Ethik zu entwickeln, mit dem Ziel die Individual- und Sozialethik von ihrem transzendenten Grund zu lösen. Aber diese großmundig propagierten Initiativen mussten notwendig scheitern, weil es Moral nur gibt, wenn der Mensch sich nicht vor der bedingten Welt, sondern sich persönlich vor dem Unbedingten verantworten muss.

Das unbedingt geltende Gute bzw. das zu vermeidende Böse kann nicht selbst wieder nur ein Teil dieser Welt sein oder eine Funktion an ihr.

Nur das persönliche Verhältnis des Ich zu seinem göttlichen Richter, zu dem er „Du“ sagt (Abba, Vater unser) und der ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet, ermöglicht es, dass die Moral nicht ein Bezug zu sachlichen Werten ist, sondern eine personale Relation zu dem Urheber und Inbegriff des Wahren und Guten.

Als Christen sagen wir auch, dass uns die Forderungen des moralischen Imperativs nicht erst in dem geoffenbarten Dekalog bekannt geworden sind. Denn Gott hat sie schon jedem Menschen in Geist und Herz eingeschrieben. Das hat zur Folge, dass auch der “Heide“, also der Mensch vor der heilsgeschichtlichen Begegnung mit Gott, im Gewissen die unbedingte Geltung der Gebote als göttliches Gesetz erfasst: Du sollst nicht stehlen, nicht die Ehe brechen, Du sollst nicht das Geschöpf anstelle des Schöpfers anbeten. (vgl. Röm 2, 14-24).

Rilinger: Wenn sich in der Neuen Weltordnung die Macht aus der Wirtschaft herleitet und die Welt als ein einziger Markt gedacht wird, stellt sich die Frage, wie die Macht – so wie es Romano Guardini gefordert hat – gebändigt wird. Kann die globale Macht, die sich aus dem Reichtum ergibt, eingegrenzt werden und, wenn dieses möglich sein sollte, durch wen?

Kard. Müller: Macht und Reichtum bedingen einander. Aber es kommt auf die Menschen an, ob sie die Macht über die Naturgewalten, das Chaos der Triebe und Interessen bändigen und die durch Arbeit, Fleiß und Intelligenz rechtmäßig erworbenen Güter in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Jesus hat auf die Versuchungen der Potentaten, ihre Macht über die Menschen zu missbrauchen, hingewiesen sowie auf die Schwierigkeiten für die Reichen, in das Reich Gottes zu gelangen, wenn sie ihr Herz an den Reichtum hängen und ihre Augen vor den Armen verschließen.

Der Globalismus ergibt sich aus den Möglichkeiten der modernen Kommunikation, der Verkehrsmittel, die die Entfernungen zusammenschrumpfen lassen, der Technologie, die eine immense Steigerung der Produktion von Gebrauchsgütern und damit eine Erhöhung des Lebensstandards für Milliarden Menschen möglich macht. Aber zu allen Zeiten war die Konzentration der politischen Macht, der Finanzen und der Kommunikationsmittel in den Köpfen und Händen weniger – ob als Partei, Finanzgruppe oder Medienmogul – ein Unglück für den Rest der Menschheit. Globale Macht- und Finanzzentren, die sich als Weltregierung gerieren, globalisieren auch ihre Schattenseiten. Sie funktionieren nur dialektisch mit ihrem Gegenteil. Die Übermenschen brauchen ihre Untermenschen, die Superreichen ihr abhängige Klientel, die von ihnen auf niedrigem Niveau alimentiert wird. Die absoluten Herrscher brauchen ihre willigen Untertanen und fürchten freie und selbstbewusste Bürger wie der Teufel das Weihwasser. Dem Hohem Rat der absoluten irdischen Macht hält Petrus und der Papst als sein Nachfolger zu allen Zeiten entgegen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5, 29).

Der säkularisierte und offiziell antichristliche „Westen“ lässt allenfalls das Christentum als Zivilreligion zu. Dezidiert sich von der Kirche lossagende Prominente nutzen aber gerne eine kunstgeschichtlich wertvolle Kirche als Kulisse ihrer Hochzeit, obwohl sie die Ehe nicht als göttliche Institution und als Verheißung seiner Gnade verstehen wollen.

In China verfolgt die atheistische Staatspartei die Christen und nutzt ihre Versammlungen als Gelegenheit zur Indoktrination gegen den Glauben an Christus, den wahren Retter der Welt. Wer setzt denn noch auf diplomatische Tricks und politische Kompromisse mit dem Teufel, dem „Herrscher dieser Welt“ (Joh 12, 31 2 Kor 4,4), um etwas Gutes für das Christentum herausholen zu können?

Der wesentliche Unterschied ist der, dass Christus sein Leben hingeben hat, damit wir leben, während die Machthaber dieser Welt, das Leben ihrer Untertanen verbrauchen, damit sie ein paar Augenblicke länger und üppiger leben, um am Ende in der Hölle zu enden, die sie auf Erden anderen bereitet haben, „wo ihr Wurm (des Gewissens) nicht stirbt und das Feuer (der nicht entzündeten Liebe) nicht erlischt.“ (Mk 9,48) Mit dieser Metapher meint Jesus Christus, dass das Gewissen wie ein Wurm in diesen Personen nagt. Die Kriegstreiber in der Ukraine, durch die zehntausende Menschen sterben, haben kein Gewissen, was ihnen aber vor dem Gericht Gottes nicht als Ausrede helfen kann.

Rilinger: Auguste Comte hat auf den Fortschritt ohne Gott gesetzt. Dadurch hat er die letzte Instanz, vor der sich Menschen verantworten müssen, für obsolet erklärt. Besteht folglich die Möglichkeit, dass die durch Gott festgelegte, aber vom Menschen aufgehobene Grenze durch eine von Menschen erdachte ersetzt werden kann?

Kard. Müller: Wo könnte diese Grenze sein? Wenn in einem Schiff die Grenze zwischen dem Innenraum und dem Meerwasser, das den Schiffskörper umspült, mit dem Durchlöchern der Bordwand aufgehoben ist, kann auch der beste Kapitän und die voll eingespielte Mannschaft das Schiff nicht mehr vor dem Untergang und sich vor dem Verderben retten. All die Hoffnungen auf eine glückliche Menschheit durch politische und technische Revolutionen haben sich nicht erfüllt. Den Utopisten geht es wie Sisyphos, der tragischen Symbolfigur, der immer kurz vor dem Erfolg der Selbsterlösung scheitert. Die Träume von der schönen neuen Welt sind so erfolglos wie es dem Kahlkopf widerfährt, der sich an seinem verlorenen Schopf selbst aus dem Sumpf ziehen will, statt die ausgestreckte Hand seines Retters zu ergreifen.

Rilinger: Ist die durch die Marktmacht grundierte Neue Weltordnung demokratisch legitimiert?

Kard. Müller: Das ist das Problem, dass die Supermilliardäre über ihre „wohltätigen“ Stiftungen und ihren Einfluss in den internationalen Organisationen die nationalen Regierungen, die – wenigstens in einem Drittel der Staaten – demokratisch gewählt sind, von sich abhängig machen. Sie werden wie große Staatsmänner oder Promis und VIPs empfangen und von den lokalen Machthabern in der eitlen Hoffnung, etwas von ihrem Glanz und Glimmer abzubekommen, umschmeichelt. Ein wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmer, selbst wenn er ganz legal und moralisch unbeanstandet reich geworden ist, ist noch lange kein Philosoph oder schon gar nicht der Messias. Und wenn schon! Es waren auch Platons Philosophenkönige nicht die Retter der Welt. Nur der Sohn Gottes, der unser Menschsein angenommen hat, konnte die Welt ein für allemal zum Guten wenden, weil er Sünde, Tod und Teufel besiegt und uns die Erkenntnis und das Heil Gottes gebracht hat. Aber jeder kann, wenn er in seinem Beruf und Unternehmen erfolgreich war, zu einer relativen Verbesserung unserer weltlichen Existenz beitragen.

Wir Christen haben eine Verantwortung, mit unserer Fachkompetenz und Erfahrung in den verschiedensten Sparten des handwerklichen und kulturschaffenden Gewerbes am Aufbau einer menschenfreundlichen Welt mitzuwirken, ohne uns freilich als ihre Retter und Erlöser aufzuspielen oder feiern zu lassen.

Es muss dabeibleiben, dass in einer Demokratie jeder erwachsene Bürger eine Stimme hat, mit der er die Abgeordneten und die Regierenden frei wählt. Freie Abstimmung ist etwas ganz anderes als das Erfragen von Stimmungen, die täglich wechseln. Das eine kommt aus der Verantwortung des Bürgers für das Gemeinwohl, die Stimmung gibt nur ein augenblickliches Gefühl wieder.

Rilinger: Seit einigen Jahren drängt sich der Verdacht auf, dass nicht nur die wissenschaftliche Diskursfreiheit, sondern die Meinungsfreiheit insgesamt dadurch beschnitten wird, dass sofort die Anklage der Förderung einer Verschwörungstheorie erhoben wird, wenn man jenseits des mainstream argumentiert. Kann es akzeptiert werden, dass die Meinungsfreiheit derart beschnitten wird?

Kard. Müller: Stalin und Hitler fürchteten fortwährend Verschwörungen, sei es aus Berechnung, um die Opposition einzuschüchtern und auszuschalten, sei es aus ihrer Paranoia, die der Nährboden ihrer Tyrannei war. Man sah im 18. Jahrhundert an den Bourbonenhöfen die Jesuiten, im 19. Jahrhundert in den liberal-antiklerikalen Kreisen den Vatikan und im 20. Jahrhundert die Juden – gemäß den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ – als Träger einer Weltverschwörung an. Oder man hielt die Kirche und die Kapitalisten für die Feinde des Fortschritts hin zum Arbeiterparadies, die nur durch die kommunistische Weltrevolution gestoppt werden könnten. In meiner Jugend sprach man von Verschwörungstheorien bei exzentrischen Zeitgenossen, die überall Ufos sahen oder sich aus den Zeitereignissen unüberprüfbare Welterklärungen zusammenbastelten.

Heute ist das Wort „Verschwörungstheoretiker“ ein ideologischer Kampfbegriff geistig unterbemittelter Antifaschisten, die ihren „Kampf gegen rechts“ mit Nazimethoden führen, d.h. medial einschüchtern, mit Gewalt drohen wie z. B. gegen die Richter des Supreme Court, die das Menschenrecht auf Abtreibung verneint haben, oder gegen eine Dozentin in der Humboldt-Universität – einst der Inbegriff des deutschen Wissenschaftsstandards –, welche die biologisch evidente Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit der menschlichen Natur erklären wollte, ohne die es keinen einzelnen Menschen gäbe und nicht einmal die, die dagegen anpöbeln.

Rilinger: Die Neue Weltordnung zu kritisieren, wird pauschal als Verschwörung bezeichnet, um die Diskussion schon im Keim zu ersticken. Können Sie sich die Gründe für dieses Diskussionsverbot erklären?

Kard. Müller: Der Ideologe kennt nur den Freund, der sich ihm wie ein Kretin mit Hurra unterwirft oder den Feind, den es zu vernichten gilt – am besten physisch, wenn es das System zulässt, oder etwas gesitteter durch den sozialen Tod wie Shitstorm, öffentliche Ächtung, Kündigung oder durch Verschwindenlassen in der Schweigespirale.

Wenn sich ein physisch und psycho-terroristisch Verfolgter in seiner Not das Leben nimmt, sehen sich seine Peiniger auf perverse Weise noch gerechtfertigt in der Ausschaltung von Schädlingen, wie es genau die Sprechweise in Nazi-Deutschland und Sowjet-Russland war. Gottlosigkeit und Menschenfeindlichkeit gehen Hand in Hand.

Rilinger: Eine andere Form eines Diskussionsverbotes ist auch die Feststellung, dass die eigene Meinung als alternativlos angesehen wird. Ist die Festlegung der Alternativlosigkeit nicht doch die Forderung, dass die eigene Meinung als absolut zu gelten habe?

Kard. Müller: In endlichen Dingen gibt es immer mehrere Aspekte und Perspektiven zu beachten. Nur die Unterscheidung von Wahr und Falsch und von Gut und Böse ist alternativlos, weil sie aus der Evidenz ihrer Prinzipien hervorgeht. Gewiss gibt es auch in praktischen Dingen alternativlose Wahrheiten, wie die, dass ein Haus zusammenfällt, wenn es nicht auf einem festen Fundament steht. Aber das sind allgemeinen physische, mathematische oder philosophische Grundprinzipien. Auch in einer sandigen Gegend kann man ein Haus bauen, wenn man nur anderweitig in der Lage ist, ein gutes Fundament zu erstellen. Deshalb war die Meinung, man könne im märkischen Sand keine Städte errichten, keineswegs alternativlos. Man darf mit dieser Vokabel deswegen nicht berechtige Diskussion und Kontroversen unterdrücken und sich bequem die besseren Argumente ersparen.

Rilinger: Ist der philosophisch/politische Diskurs über die Neue Weltordnung ein notwendiger Diskurs, um aufzuzeigen, wohin die ungebändigte wirtschaftliche Macht einzelner Personen Gesellschaften und Staaten führen kann?

Kard. Müller: Die moralisch ungebändigte Herrschaft von Ideologen, Politikern und Ökonomen über die Menschen in der einen Welt muss notwendig in Unfreiheit, Unterdrückung und Ausrottung unliebsamer Gegner oder für das System nutzloser Menschen führen.

Die Kultur des Todes weht über die ganze Welt mit dem ideologischen Wahn von dem Recht auf Abtreibung, dem Recht auf die Selbstverstümmelung (in der irreversiblen Geschlechtsumwandlung), der Euthanasie, dem angeblichen Gnadentod für Lebensüberdrüssige, unheilbar Kranke und angeblich sinnlos dahinvegetierende Senioren, die zu töten ein Akt des Mitleides sein soll.

Rilinger: Das christliche Moment soll immer mehr aus dem politischen Diskurs verbannt werden. Wird dadurch nicht auch das Fundament zerstört, auf dem die westliche Welt aufgebaut ist?

Kard. Müller: Ohne das Christentum – mit seiner Wurzel in der Offenbarungsgeschichte Gottes in Israel, in die auch das beste Erbe der griechischen und römischen Kultur integriert ist, verbunden mit dem Erbe der ganzen Menschheit –, wären Europa und Amerika nur noch leere Territorien, auf denen allein die Märkte herrschen und die bewohnt werden von namenlosen Bewohnern, denen man die Existenzform eines Roboters zugesteht.

Rilinger: Sie haben im Diskurs vorgetragen, dass sehr reiche Personen wie Bill Gates oder der Investor George Soros die Neue Weltordnung durchsetzen wollen. Was beabsichtigen gerade diese beiden Personen und welche Möglichkeiten haben sie, um ihre Vorstellungen durchzusetzen?

Kard. Müller: Diese beiden stehen nach ihrem eigenen Bekunden für die Neue Weltordnung, die sie nach ihrem Bild und Gleichnis errichten wollen. Über ihre persönlichen Motive kann kein anderer urteilen als Gott. Aber ihr Programm und ihre Aktionen sind jedermann zugänglich, so dass wir diese auch nach ihren positiven oder negativen Wirkungen beurteilen können. Der intellektuelle Gehalt ihrer Beiträge ist, gemessen an der Geistes- und Kulturgeschichte der Menschheit, eher bescheiden und wird von jedem normalen Studenten in den ersten Semestern – in welchem Fach auch immer – leicht erreicht.

Als Reaktion auf meine kritische Bemerkung haben sich in Deutschland einige Wortführer lautstark und geistesschwach entblödet, in der Relativierung von Herrn Soros Äußerungen antisemitische Muster zu finden, nur weil er als Jude geboren ist. Mit Blick auf den in Wolle antichristlich gefärbten politischen und rassistischen „Antisemitismus“ des 19. und 20. Jahrhunderts, wie von Heinrich Treitschke, Bernhard Förster, dem Ehemann von Nietzsches Schwester, Richard Wagner, Houston Chamberlain, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler vertreten, kann man als Christ nur sagen, dass Jesus auch als Jude geboren wurde, auf den wir Christen aus welcher Nation auch immer im Leben und Sterben unsere ganze Hoffnung setzen. In Deutschland ist die geistige Landschaft nicht nur ideologisch kontaminiert, sondern sie seufzt auch unter der geistigen und moralischen Inkompetenz ihrer lautesten totalitären Schreier.

Rilinger: Wird das Konstrukt der Neuen Weltordnung als absolut und sakrosankt gesetzt, so dass sich jegliche Kritik verbietet?

Kard. Müller: Es ist ein unleugbares Zeichen der totalitären Herrschaft, wenn Kritik kriminalisiert wird. Besser als es Hannah Arendt in Bezug auf das Dritte Reich und vergleichbar auf den Stalinismus herausgearbeitet hat, geht es kaum, wie sie es 1951 in dem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft“ (München 2021) beschrieben hat.

Rilinger: Auch wenn eine neue Weltordnung ohne Gott geschaffen werden soll – Francis Fukuyama hat in seinem Buch „Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet“ darauf hingewiesen, dass eine religiöse Erneuerung erfolgen werde. Allerdings nicht deshalb, weil die Personen von der Wahrheit der Offenbarung überzeugt seien, sondern weil sie „angesichts des Mangels an Gemeinschaftlichkeit und der Auflösung der sozialen Bindungen in der säkularen Welt ein Bedürfnis nach überlieferten Ritualen und kulturellen Traditionen verspüren“. Können Sie diese Auffassung zur Wiederkehr der Religion teilen und sich einen weiteren und stärkeren Rekurs auf das Christentum vorstellen?

Kard. Müller: Die Religion kehrt nicht zurück wie ein Naturphänomen, das ein anderes nach sich zieht. Religion als geistig-sittliche Anlage und Haltung, das Ganze der Welt auf die höhere Macht des Göttlichen zurückzuführen und eine Ehrfrucht vor der Heiligkeit des Lebens zu empfinden, ist nicht von der menschlichen Natur ablösbar. Etwas anderes ist der übernatürliche Glaube, der uns vom Heiligen Geist eingegossen wird und der uns befähigt, Gott in seinem Wort an uns voll zuzustimmen mit Verstand und Willen. Im Gleichnis vom ungerechten Richter, der einer armen Witwe ihr Recht vorenthält, sagt Jesus seinen Jüngern: „Sollte Gott seine Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ (Lk 18, 6ff).

Den Niedergang der Kirche in Deutschland und in Europa bewirkt nicht die Säkularisierung, der Kirchenkampf der totalitären Regimes und der Kulturkampf von Bismarck bis zur Giordano- Bruno-Gesellschaft, sondern der Mangel an Glauben, die Schwäche der Hoffnung und die erkaltete Liebe der getauften und gefirmten Katholiken, die sich eher von den Sirenenklängen der Welt betören lassen als auf die Stimme ihres guten Hirten zu hören und ihm zu folgen.

Rilinger: Eminenz, vielen Dank.

Archivfoto Kardinal Müller (c) Lothar C. Rilinger


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